Die dieser Tage wie aus dem Nichts aufgetauchte Frage scheint auf Anhieb einfach: Wer verfolgt im Ukraine-Krieg welche Ziele? Totaler Sieg der Ukraine? Totale Niederlage Russlands? Verhandlungen um welchen Preis für welche Seite? Oder soll die Ukraine Konzessionen akzeptieren, um die Zahl der Opfer und die materiellen Schäden zu begrenzen?
Am einfachsten liest sich die US-amerikanische Strategie – nur ist sie, was die Langfrist-Folgen betrifft, besonders problematisch und birgt für die Zukunft unwägbare Risiken in sich. Der Verteidigungsminister, Lloyd Austin, formulierte sie unverblümt: Russland so sehr schwächen, dass es nie mehr in der Lage sein wird, ein anderes Land zu bedrohen. Also: Alles unternehmen, um die ukrainischen Truppen in die Lage zu versetzen, die russischen Streitkräfte zu besiegen und ausserdem das russische Regime zu demoralisieren.
Für viele, wahrscheinlich die Mehrheit im ganzen Westen, tönt das spontan wahrscheinlich gut: Gerechte Strafe für den vom Kreml entfachten Krieg gegen das Nachbarland. Besser noch, so wohl ebenfalls ein weit verbreitetes Gefühl im Westen (und in der durch russische Attacken verwüsteten Ukraine), wenn man Russland zwingen würde, mindestens für die materiellen Schäden aufzukommen.
Das «System Putin»
Nur: Russland ist/wäre auch nach einer militärischen (und moralischen) Niederlage a) eine Atommacht, b) ein Staat mit rund 140 Millionen Menschen, c) das weltweit flächenmässig grösste Land, dessen Bevölkerung nicht pauschal mit der Ideologie und der Strategie des Kremls gleichgesetzt werden sollte (auch wenn jetzt Meinungsumfragen immer wieder zu beweisen scheinen, dass eine Mehrheit sich mit Putins Diktatur identifiziert).
Würde das «System Putin» in der Versenkung verschwinden und gäbe es wieder etwa so viel Medienvielfalt wie in den 90er Jahren, lauteten die Resultate von Meinungsumfragen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders als jetzt. Russland insgesamt (also nicht einfach das «System Putin») so zu schwächen, wie das die jetzige US-amerikanische Denkweise möchte, würde nicht zu einer soliden, tragfähigen neuen Weltordnung führen, im Gegenteil.
Versailles 1918
Auch wenn historische Vergleiche hinken, drängt sich der Rückblick auf «Versailles» 1918 mit den bekannten Folgen auf: ein Deutschland, dem Sanktionen und Reparationsforderungen auferlegt wurden und in dem sich Jahre später die Hitler-Diktatur entwickelte. Will man (oder will zumindest die jetzige US-Administration) etwas Ähnliches mit Russland riskieren?
Dass sich Präsident Selenskyj einen totalen Sieg der Ukraine gegen den Aggressor wünscht, ist nachvollziehbar. Selenskyj sagte noch vor wenigen Tagen, ein Kompromiss hinsichtlich des Territoriums käme nie und nimmer in Frage. Und Umfragen in der Ukraine zeigten: Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung teilt diese Entschlossenheit. Dann aber modifizierte Selenskyj sein Statement: Es sei denkbar, sagte er, dass nicht das gesamte Gebiet durch den Einsatz des Militärs zurückgewonnen werden könne.
«Nur» die Krim und und den Donbass?
Also hofft er auf die Diplomatie? Oder geht er eben doch davon aus, dass vielleicht die im Donbass seit 2014 von Separatisten kontrollierten Gebiete (da handelt es sich um ca 6’000 km2) verloren sind?
Die seitenverkehrte Anschlussfrage müsste dann allerdings lauten: Wenn die russische Führung als Resultat des Kriegs «nur» diese Region und allenfalls die Krim beanspruchen könnte, würde sie dann nicht, vielleicht einige Jahre später, noch einmal einen Eroberungskrieg lancieren?
Harte Folgen in Kauf nehmen
Henry Kissinger, eben 99 Jahre alt geworden, äusserte am WEF in Davos, die Ukraine sollte eine Lösung akzeptieren, bei der eine Rückkehr zum «status quo ante» im Zentrum stände. Und auch, dass die Welt, ohne Rücksicht auf tiefgreifendes Unbehagen, sich irgendwie weiter mit Putin arrangieren müsse. Diese Meinung vertritt im Wesentlichen auch Frankreichs Präsident Macron, und man kann davon ausgehen, dass auch der immer um Unklarheit bemühte deutsche Kanzler, Olaf Scholz, in diese Richtung denkt.
Wenn noch weitere Europäer sich auf diese Linie hinbewegen, bleibt die US-amerikanische Strategie der Biden-Administration (fast) allein – kompromisslos sind derzeit nur noch Polen, Litauen, Lettland und Estland. Die baltischen Staaten sind ja auch bereit, harte materielle Folgen für ihre Politik in Kauf zu nehmen, inklusive Engpässe und Mangel bei der Energie-Zulieferung. Von ähnlicher Opferbereitschaft ist auf dem europäischen Kontinent wenig zu sehen – das Prinzip Hoffnung (dass man von spürbaren Folgen verschont bleibe, die Benzinpreise nicht weiter drastisch steigen und die Wohnung im kommenden Winter warm bleibt) ist noch immer vorherrschend.
Denken an die Zeit danach
Fazit: Der Gedanke, man müsse sich eines Tages mit Kreml-Herrscher Putin wieder arrangieren, widerstrebt allen Regierenden in Europa zutiefst. Allerdings musste man sich auch damit abfinden, dass in Syrien Bashir al-Assad an der Macht bleibt. Oder dass in Afghanistan nun (nach einem 20 Jahre dauernden Krieg) eben doch die Taliban die Herrschaft ausüben und die Rechte der Frauen (und vieler ethnischer Minderheiten) nicht nur mit Füssen treten, sondern ihre Ideologie auch mit Gewalt durchsetzen. Mit den Taliban hat die westliche Polit-Klasse schon wieder Kontakte, mit Assad noch nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit.
Syrien und Afghanistan sind weit entfernt, sowohl geografisch als auch mental – die Ukraine und auch Russland dagegen befinden sich in unserer Nachbarschaft. Daher ist das Engagement zugunsten der Ukraine und gegen Putins Diktatur unendlich viel ausgeprägter. Da leiden wir mit, empören uns täglich und zu recht. Nur gebieten es Vernunft und Erfahrung, schon jetzt, noch in der Zeit des Kriegs und der von der russischen Armee verschuldeten Zerstörung, für die Zeit danach nachzudenken.