Während 1,5 Millionen Menschen in Odessa sich abmühten, einen weiteren Tag und eine weitere Nacht in Dunkelheit und Kälte zu überleben, hob Wladimir Putin vor laufenden TV-Kameras zwei Mal sein Sektglas – einmal in Bishkek, einmal in Moskau. Und sagte, sinngemäss und eher beiläufig, die Welt gerate immer etwas näher an die Schwelle zu einem Atomkrieg.
Und ausserdem: In der Ukraine laufe alles nach Plan, niemand in Russland müsse sich Sorgen machen. Im Übrigen sei es ja so, dass die «Gegenseite» all jene Spannungen geschürt habe, die Russland schliesslich dazu gezwungen hätten, seine «spezielle Militäroperation» zu starten. Tief enttäuscht sei er von Angela Merkel, der früheren deutschen Kanzlerin, die in den Jahren 2014/2015 einseitig, zugunsten der Ukraine, jene Abkommen diktiert habe, die zur Lösung des Konflikts im ukrainischen Donbass hätten führen sollen (so genannte Minsk-Abkommen), damit hätten die Probleme wirklich begonnen.
Verdrehte Behauptungen zum Minsker Abkommen
Dass Wladimir Putin (wie auch der zum Falken mutierte Dmitri Medwedew, Stellvertreter-Präsident Russlands zwischen zwei Amtszeiten Putins) die Geschichte kaltlächelnd um 180 Grad verdreht, ist spätestens seit dem 24. Februar (Kriegsbeginn) bekannt. Aber dass er auch Verträge, die er selbst unterschrieben hat, seitenverkehrt rück-interpretiert, stellt doch noch eine neue Eskalationsstufe in Sachen Manipulation dar.
Die Fakten: Am 11. Februar 2015 unterschrieben in Minsk die Präsidenten Poroschenko (Ukraine), Putin (Russland), Hollande (Frankreich) und die deutsche Kanzlerin Merkel einen Friedensplan für die von pro-russischen (und bereits damals von Russland bewaffneten) Separatisten unter Anwendung von Gewalt teilbesetzte Region im Osten des Donbass, also einer Region, die zur Ukraine gehörte und die sich, nach dem Willen der Separatisten, aus dem Verbund mit Kiew lösen sollte. Das Abkommen wurde im Detail von der OSZE ausgearbeitet, die schweizerische Diplomatin Heidi Tagliavini war wesentlich an den Verhandlungen beteiligt. Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, engagierte sich besonders intensiv um ein Abkommen, das sie als wegweisend für ein (wenigstens vorübergehend) konfliktfreies Nebeneinander Ukraine und Russland erkannte.
Dank des Abkommens (sog. Minsk II) kam ein Waffenstillstand zustande, der allerdings nicht tragfähig war. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) übernahm die Überwachung der Konfliktlinie zwischen pro-russischen Separatisten und den ukrainischen Truppen (Angehörige der regulären Armee, aber auch von privat finanzierten Milizen). Sprach man mit den Verantwortlichen der OSZE-Mission, erhielt man, in den Jahren zwischen 2015 und bis kurz vor dem Beginn des Kriegs am 24.02.2022 die Antwort, beide Seiten seien ungefähr für die gleiche Zahl von Verletzungen der Vereinbarung verantwortlich. Etwa 14’000 Menschen kamen bis 2022 in der umstrittenen Region ums Leben, Bewaffnete wie auch Zivilisten.
Immer neue Versionen zur Angriffsrechtfertigung
Wenn Putin und seine Propagandisten nun der Ukraine vorhalten, sie sei allein schuldig an der Todeswelle im Donbass, dann verzerren sie die Tatsachen: Diese Tragödie haben beide Seiten zu wohl etwa gleichen Teilen zu verantworten. Der Regierung der Ukraine kann man vorwerfen, dass sie sich nie bemüht hat, der Bevölkerung des Donbass Autonomie zu offerieren. Kiew konterte solche Vorwürfe allerdings mit dem Hinweis, eine Abstimmung über dieses Thema sei schon deshalb nicht möglich gewesen, weil die schwer bewaffneten Separatisten eine faire Kampagne nie und nimmer zugelassen hätten. Und ausserdem hätten die Separatisten respektive die sie unterstützenden russischen Militärs es den Ukrainern verunmöglicht, eigene Kräfte an den alten (international anerkannten) Grenzen zu Russland zu stationieren.
Es waren Details, die in den Jahren zwischen 2015 und 2022 den Blick auf das grosse Ganze im Donbass-Konflikt verstellten. Wladimir Putin aber zieht nun von ihm selbst willkürlich herausgepickte Details aus diesem Regionalkonflikt aus der Mottenkiste, um seinen Zerstörungskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Ihm, aber auch Medwedew, Schoigu (Verteidigungs- oder besser Angriffsminister), Lawrow (Aussenminister) fallen immer neue Szenarien ein. Der Faschismus, das sagte Medwedew, habe nicht nur Europa erfasst, sondern sich bereits bis nach Neuseeland ausgebreitet.
Gedankenspiele im Westen
Wie soll die Regierung der Ukraine, wie soll der Westen diesem ständig weiter eskalierenden Irrsinn Grenzen setzen? Mit Härte oder Flexibilität? Der britische Geheimdienst (dessen Publikationen sich seit Kriegsbeginn als mehrheitlich zutreffend erwiesen haben) diagnostiziert ständig anwachsende Probleme im russischen Staatshaushalt, auch stetig eklatantere Probleme bei jenen russischen Truppen-Teilen, die in der Ukraine gegen angebliche Faschisten kämpfen sollen. Schlagen solche Probleme durch bis zu Präsident Putin? Ist das der Grund dafür, dass Putin und seine Prätorianer-Garde sich in immer wahnwitzigere Theorien und Rechtfertigungen flüchten?
Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, lancierte vor wenigen Tagen einen Versuchsballon, indem er sagte, man müsse sich darum bemühen, Russland nach dem Ende des Konflikts gewisse «Sicherheitsgarantien» zu geben. Er führte das nicht weiter aus und korrigierte seine Äusserung dann leicht mit dem Hinweis, mit Moskau könne man, klar, erst dann reden, wenn die russische Aggression beendet sei. Nur: Wann ist sie beendet?
In dem materiell von Kriegsauswirkungen belasteten Westeuropa blitzen, medial, immer wieder Gedankenspiele des Inhalts auf, die Ukraine müsse sich wohl damit abfinden, auf gewisse Regionen (den Osten, eventuell auch den Süden des Landes plus die Krim) zu verzichten, dann – ja dann gäbe es vielleicht Frieden. In die gegenteilige Richtung verlaufen Debatten des Inhalts, Putins Russland würde in einer solchen Situation bestenfalls einige Monate, vielleicht einige Jahre stillhalten, um danach den Konflikt wieder aufzunehmen mit dem Ziel, sich mindestens die im Jahr 1991 verlorenen Regionen (Baltikum, Belarus, Ukraine, Moldawien, südliche Kaukasus-Staaten) wieder einzuverleiben. Denn eigentlich gehe es ja gar nicht um einen Konflikt um die Ukraine, sondern um einen Werte-Konflikt Russlands mit westlichen, freiheitlichen Werten.
Die wesentlichen Fragen
Die konkretere Frage lautet: Wie lange hält die Bevölkerung der Ukraine die Kälte des Winters und die Zerstörungswut der russischen Armee durch? Wie lange, das ist die zweite, wesentliche Frage, ist der Westen willens und in der Lage, die ukrainischen Truppen mit Waffen und Munition wenigstens so intensiv zu versorgen, dass sie die Gegenseite in Schach halten können? Und die dritte lautet: Wie gross ist in Europa die Einigkeit beim Thema Ukraine?
Zum ersten Punkt: Meinungsumfragen in der Ukraine zeigen, dass noch immer eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung zum Durchhalten entschlossen ist. Journalisten vor Ort (die «NZZamSonntag» publizierte dazu eben einen lesenswerten Beitrag) stellen dasselbe fest.
Zum zweiten Punkt: In Bezug auf Munitions-Lieferungen zeichnen sich einige Engpässe ab, hinsichtlich der Waffen jedoch nicht. Die Frage ist vielmehr, ob westliche Regierungen die bisher relativ konsequent beachtete Trennlinie zwischen Waffen zur Defensive oder auch zu einer allfälligen Offensive (gegen Ziele auf russischem Gebiet) weiterhin einhalten können. Denn das wollen ja alle vermeiden: eine direkte Konfrontation zwischen Nato-Ländern und Russland.
Und zum dritten: In Europa herrscht noch immer weitgehende Einigkeit bei der Frage nach Solidarität mit der Ukraine. Ungarn mag sich bisweilen querstellen, die Balten mögen auf zusätzliche Unterstützung drängen – und der Türkei mag/kann man vorwerfen, sie paktiere punktuell mit Moskau. Aber das sind, wenigstens vorläufig, noch Details, die das ganze Bild nur am Rande trüben.
Völlig offen, unbeantwortbar anderseits ist, bald schon 300 Tage nach Kriegsbeginn, die Frage, was sich in Russland unterhalb der Herrschafts-Ebene im Kreml abspielt. Und damit eine Antwort auf die Frage, wie sehr sich dieser Krieg noch in die Länge ziehen kann. Meine unmassgebliche Vermutung: leider noch sehr lange.