Unterwegssein macht verletzlich. Die Maus ist geschützter in ihrem Loch, der Fuchs entspannter in seinem Bau, die Meise sicherer in ihrer Baumhöhle. Doch Tiere – so eine zentrale Lehre der Evolution – brauchen Mobilität für das Überleben, die Suche nach Nahrung, die Fortpflanzung und die geografische Verbreitung der Art.
Auch der Mensch besitzt einen genetisch bedingten Mobilitätsdrang, obschon dieser seine evolutive Funktion längst verloren hat. Volle Züge, verstopfte Autobahnen, überfüllte Lufträume, ja sogar Volksaufmärsche auf berühmten Wanderwegen zeugen davon. Früher lauerten dem mobilen Menschen Wegelagerer auf, heute sind es Autounfälle, Flugzeugabstürze, Lawinen, welche unser Leben bedrohen. Allerdings gibt es sie noch, die modernen Wegelagerer, auch wenn sie es (meistens) nur auf unser Gut und nicht auf unser Leben abgesehen haben – zum Glück.
Desaströse französische Eisenbahnpolitik
Mein Frau und ich sind, wie seit vielen Jahren im März, im Auto unterwegs in die Haute-Provence. Wir lieben die Route Napoléon zwischen Grenoble und Sisteron über den Col de la Croix Haute, den man bis vor kurzem auch mit dem Zug, in einem Dieseltriebwagen der SNCF, befahren konnte. Vor zwei Jahren, kurz bevor auch diese Eisenbahnlinie der desaströsen Eisenbahnpolitik der Franzosen zum Opfer gefallen ist, haben wir uns für wenig Geld die beschauliche Fahrt von Aspres-sur-Buëch nach Grenoble und zurück geleistet.
Es war die letzte Chance für dieses Erlebnis. Unterdessen sind die Schienen verrostet, die schönen Bogenviadukte, welche an die Rhätische Bahn erinnern, stehen nutzlos in der Landschaft. Im zweiten Jahr nach der Stilllegung der Strecke scheinen die verblichenen Schilder an der Strasse – „Redonnez-nous notre train“ – selber nicht mehr so recht an ihre Botschaft zu glauben.
Mit oder ohne Bahn, die Dörfer entlang der Strasse sind so verloren wie eh und je, auch das kleine Restaurant kurz nach Monestier-de-Clermont, ganz für sich allein in einer Weidelandschaft mit vereinzelten Föhren gelegen, wo wir schon in früheren Jahren manchmal einen Mittagshalt eingelegt hatten.
Ärger über die eigene Sorglosigkeit
Wir lassen unser Auto auf dem holprigen Parkplatz zwischen andern Fahrzeugen stehen. Zusammen mit 20 oder 30 andern Gästen serviert man uns ohne Wartezeit das dreigängige Mittagsmenu, nicht haute cuisine, aber währschaft. Nach 40 Minuten sind wir zurück beim Auto, wollen gerade einsteigen, als meine Frau die eingeschlagene Scheibe an der rechten Hintertür entdeckt. Ihre kleine Reisetasche mit Portemonnaie, Bankkarten, Ausweisen und sonstigen Reiseutensilien ist weg. Scherben bedecken den Hintersitz. Mein Rucksack mit unseren Laptops sowie die andern Gepäckstücke hinter den Sitzen sind zum Glück alle noch da.
Dem Schrecken weichen bald die Wut über die brutale Gewalt und der Ärger über die eigene Sorglosigkeit. Der Wirt reagiert seltsam verlegen auf unsere Anzeige und verspricht, sofort die Polizei zu avisieren. Eine Frau an einem Tisch, welche meine Meldung mitgehört hat, raunt mir zu, dies sei hier leider nicht der erste Fall dieser Art. Noch in der Gaststube sperre ich telefonisch die gestohlenen Kreditkarten und lobe mir nach den kurzen Gesprächen die heimatliche Effizienz. Später kommt der Wirt mit der Meldung zurück, ich müsse selber im nächsten Dorf auf dem Polizeiposten Anzeige erstatten. „La police ne se déplace pas!“
Geflüstertes Französisch
Alors, les touristes se déplacent! – Bei der Gendarmerie angekommen realisieren wir, dass sich die Polizei durchaus bewegt, aber nur zum Mittagessen. Der Eingang ist vergittert, alle Fensterläden heruntergelassen. Über eine Gegensprechanlage, welche uns direkt mit Paris zu verbinden scheint, teilt man uns lakonisch mit, der Posten bleibe noch bis 14 Uhr geschlossen. Wir warten mit Blick auf die Uhr. Um 14.02 bewegt sich ganz rechts ein erster Fensterladen langsam und majestätisch nach oben, dann folgen in gehörigem zeitlichen Abstand die beiden nächsten Fenster, und schliesslich erscheint ein junger Polizist an der Tür und schiebt das Scherengitter zurück.
Bevor er wieder im Innern des Gebäudes verschwindet, versuche ich ihn dazu zu bewegen, einen Blick auf das Corpus Delicti, unser Auto mit der eingeschlagenen Scheibe zu werfen, aber das interessiert ihn kaum. Verbrechen werden im Büro, nicht durch Spurensicherung am Tatort geklärt. Er bittet uns in einen schmucklosen Raum, schiebt uns zwei Stühle hin und startet eifrig seinen Computer. Von Zeit zu Zeit spricht er leise zu seinem Bildschirm, bis wir merken, dass er uns meint. Sein geflüstertes Französisch ist nicht einfach zu verstehen, trotz acht Jahren Unterricht in den Basler Gymnasien.
Wir unterschreiben und sind entlassen
Zum Glück sind meine Papiere und diejenigen für das Auto nicht gestohlen worden. Aber auch so dauert das Ausfüllen eines offenbar komplizierten Formulars fast eine Stunde. Man kann dem jungen Polizisten – er könnte unser Sohn oder eher unser Enkel sein – darüber nicht böse sein, wenn er mit seinen Fingern nach dem richtigen Ort auf der Tastatur sucht und dabei mit grossen Kinderaugen auf den Bildschirm starrt. Als ich einmal aufstehe und zum Fenster trete, um mich zu vergewissern, dass sich nicht ein weiterer Besucher an unserem Auto zu schaffen macht, scheucht er mich mit einer Handbewegung hinter eine imaginäre Linie zurück. Erst jetzt merke ich, dass er uns bewusst so gesetzt hat, dass wir seinen Bildschirm nicht einsehen können.
Schliesslich druckt er ein Protokoll aus – ich hätte mindestens fünf Seiten erwartet, aber es sind nur etwas mehr als zwei, mit viel vorgegebenen juristischen Floskeln. Wir unterschreiben die Kopien gegenseitig und sind entlassen. Eine vom Polizisten empfohlene Garage klebt uns das kaputte Fenster mit einer Folie zu – mehr schlecht als recht und sündhaft teuer, als bildete die Garage Teil der lokalen „Wertschöpfungskette“.
Mit Einheimischen an der Sonne
Unsere Fahrt über den Col de la Croix Haute ist schon entspannter gewesen. Die dünne Folie an der hinteren Türe lärmt und vibriert im Wind. Als wir am Abend im Hotel Charembeau ankommen, dem kleinen Paradies, das wir vor ein paar Jahren zufällig entdeckt haben, ist unser Ärger verflogen.
Madame Berger empfängt uns persönlich. Unser Missgeschick tue ihr leid, aber wir sollten uns nun hier entspannen. Sie empfiehlt eine Garage im nahen Forcalquier, welche am nächsten Tag für ein Fünftel des Betrages ein wirklich gutes Notfenster konstruiert. Da es ohnehin unmöglich scheint, innerhalb einer Woche eine Ersatzscheibe für ein nichtfranzösisches Auto aufzutreiben, bestellen wir dieses bei unserer Heimgarage und geniessen die Ferien.
Es wird eine traumhafte Woche. Der Frühling quillt buchstäblich aus allen Bäumen, Büschen und Blumen. Wir besuchten unsere Freunde Roger und Christian im kleinen Dorfbistro von Niozelles, das nur dank dieser zwei Idealisten überlebt hat – tafeln am Mittag zusammen mit den Einheimischen an der Sonne vor dem Restaurant du Commerce auf dem Hauptplatz von Forcalquier, besuchen das alte Städtchen Lurs hoch über dem Tal der Durance und fahren zum Wandern hinauf zum Col de la Mort d’Imbert [1], der Forcalquier mit Manosque verbindet.
Der Dolch zwischen den Rippen
Was für ein geheimnisvoller Name! Er rankt sich, so die Sage, um jenen Bauern Imbert, welcher sich in Laure, die Braut eines Edelmanns, verliebt, diese durch Banditen entführen lässt und das junge Mädchen dort oben in den Bergen versteckt. Doch die Sache geht schlecht aus. Der Edelmann spürt die Gruppe auf, und als Imbert ihn niederschlägt, stösst Laure Imbert einen Dolch zwischen die Rippen und flieht mit ihrem Verlobten. Imbert bleibt tot liegen. Ob es ihn nachträglich tröstet, dass der Pass nun seinen Namen trägt?
Unterwegssein ist gefährlich. Doch da ich ein gutes Gewissen und meine Frau nicht geraubt habe, wandern wir furchtlos durch den lichten Föhrenwald zum Château de Pélicier, einem ehemaligen Bauernhaus, dessen Fenster heute bis auf schmale Schlitze zugemauert sind und einer grossen Kolonie von Fledermäusen Unterschlupf bieten.
Eine geheimnisvolle Stimmung herrscht hier, erst recht, wenn man sich die hinter den Mauern schlafenden Fledermäuse vorzustellen versucht. Überbleibsel einer alten Umfassungsmauer, ein Torbogen und ein alter Meilenstein neben dem Château erzählen von einer Zeit, als diese Berge besiedelt und bewirtschaftet wurden, weil die Menschen auf der Suche nach bebaubarem Land den Wald bis weit in die Berge hinauf gerodet hatten, um Weideland für ihr Vieh zu schaffen.
Auf dem Rückweg kommt uns eine Prozession der besonderen Art entgegen. Nein, es geht nicht um das Gedenken an den toten Imbert. Ein meterlanger, dunkel gefärbter Wurm bewegt sich langsam auf dem staubigen Strässchen vorwärts.
Es sind die Raupen des Prozessionsspinners, eines Nachtfalters, welcher an den Zweigen von Pinien für seine Nachkommen grosse Nester spinnt, die wie Wattekugeln aussehen. Die Körper der Raupen sind durch lange giftige Haare geschützt, welche bei Tier und Mensch schmerzhafte Verbrennungen verursachen. Wenn sie im Frühling ihre Nester verlassen und auf Futtersuche gehen, bilden sie lange Ketten und täuschen so einem potentiellen Feind eine Schlange oder ein anderes grosses Tier vor. [2]
Eine besondere Massnahme gegen die Verletzlichkeit des Unterwegsseins! Vielleicht bilden auch wir Menschen zum Schutz gegen moderne Wegelagerer und gegen Fenster einschlagende Vandalen auf unseren Strassen kilometerlange Autoschlangen. Ostern steht vor der Tür. Wie wäre es mit einem neuen Begriff? – Prozessionsautos.
[1] https://ginacycloclub.blogspot.com/2012/07/col-de-la-mort-dimbert.html
[2] http://www.castel-franc.com/blog/prozessionsraupen-possierlich-und-gefährlich