Am 22. Mai 1894 lernen sie sich im blumengeschmückten Salon von Madame Lemaire in Paris kennen. Marcel Proust ist 23 Jahre alt, ein eleganter Dandy, der Jugendstilkrawatten in allen Farbtönen trägt und sich durch ausgesuchte Höflichkeit auszeichnet. Bald wird er sein Universitätsstudium abschliessen, doch hegt er keinerlei Absicht, irgendeinen Beruf zu ergreifen. Bis zum Erfolg als Schriftsteller wird es noch lange dauern. Reynaldo Hahn dagegen, ein neunzehnjähriger junger Mann, geboren in Caracas, bezaubert die Zuhörer mit der «bezauberndsten Stimme, die ich je gehört habe», wie Proust schreibt. Als Komponist wird er sich früh einen Namen machen. Jules Massenet wird ihn tatkräftig fördern, gleichwohl werden ihn immer wieder tiefe melancholische Krisen heimsuchen.
Bei Madame Lemaire begegnen sich diese beiden Ausnahmetalente, unter ihren freundlichen Blicken lernen sie sich kennen und in ihrem Schloss Réveillon auch lieben. Eine einzigartige Beziehung entsteht, zuerst Liebe, dann lebenslange Freundschaft, der die Journalistin Lorenza Foschini in ihrem Buch «Und der Wind weht durch unsere Seelen» nachspürt. Mit ihm leistet sie einen besonderen Beitrag zum 150. Geburtstag Marcel Prousts, des Schöpfers des siebenteiligen Romanzyklus «À la recherche du temps perdu» (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit).
Den geliebten Menschen ganz besitzen
Im kurzen Kapiteln lässt Foschini eine Zeit lebendig werden, in der die französische Kultur sich auf einem Höhepunkt befindet. Marcel Proust wie Reynaldo Hahn verkehren gern in den Salons der Hauptstadt, ihre Beziehung allerdings halten sie mehr oder weniger geheim. Denn Homosexualität ist zwar nicht verboten, aber verpönt. Kommen Gerüchte auf, dann droht Proust mit dem Duell. Und beschwört den Schriftstellerkollegen André Gide: «Haben Sie die Kraft, Ihr Glück für sich zu behalten.»
Sie lieben einander heftig, davon zeugen die Briefe, die hin- und hergehen, und in denen Lorenza Foschini reichen Stoff findet. Denn vor allem Marcel Proust ist ein geradezu exzessiver Briefeschreiber. Schon im April 1895 zeigt sich die abschüssige Bahn, auf der sie sich befinden. Proust hat Hahn gesucht, aber nirgends gefunden. Nun entwickelt sich, was Foschini so beschreibt: «Das absurde Bedürfnis, den geliebten Menschen voll und ganz zu besitzen, zieht krankhafte Folgeerscheinungen nach sich: Verdächtigungen, Eifersucht, peinliche Befragungen, Nachforschungen.»
Diese Besitzbedürfnisse zerstören zuletzt die Liebe. Doch schaffen es Marcel Proust und Reynaldo Hahn, aus ihrer Liebe eine tiefe Freundschaft wachsen zu lassen, die bis zu Prousts frühem Tod am 18. November 1922 hält. Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Verhältnis in beider Bekanntheit umgekehrt: Proust erntet wachsenden Ruhm, während Reynaldo Hahn mit seiner leichten, transparenten, aber einer vergangenen Epoche verpflichteten Musik mehr und mehr vergessen wird.
Und zwar bis heute: Als Lorenza Foschini sich im Mai 2019 auf dem Friedhof Père Lachaise nach Reynaldo Hahns Grab erkundigt, kennt ihn das Auskunftsbüro nicht. Sie findet das etwas vernachlässigte Familiengrab ganz in der Nähe von Marcel Prousts glänzendem Marmorgrab.
Lorenza Foschini: Und der Wind weht durch unsere Seelen. Marcel Proust und Reynaldo Hahn – Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft. Nagel & Kimche, München 2021, 237 S.