Das eklatanteste Beispiel unserer Tage ist die westliche Haltung gegenüber Wladimir Putin. Aber der österreichische Journalist Paul Lendvai erläutert in seinem neuen Buch noch an weiteren Beispielen, welchen Schaden die Heuchelei anrichtet – vor unser aller Augen.
Und noch ein Buch, mit 95 Jahren! Dieses Mal wendet sich Paul Lendvai, der Doyen des österreichischen Journalismus und Autor zahlreicher Bücher, der Heuchelei zu. Ein Thema, dessen Erörterung ganze Bibliotheken füllen könnte. Lendvai belässt es angenehmerweise bei einer Vergegenwärtigung der schlimmsten – europäischen – Beispiele unserer Zeit. Er zeigt, dass eine Konzentration auf 150 Seiten nicht auf Kosten der Substanz gehen muss.
In Budapest geboren, in Österreich prominenter Publizist
Russland, der Balkan, Viktor Orbán und dessen Hass-Objekt George Soros sowie das Österreich eines Sebastian Kurz hat sich Lendvai als Beispiele westeuropäischer Blindflüge gewählt. Die von ihm angeführten Fehleinschätzungen und deren teils heute noch geheuchelten Begründungen sind nicht ganz neu, aber sie sind die übelsten und folgenreichsten Belege seiner Thesen.
Lendvai, 1929 in Budapest in eine jüdische Familie geboren und 1944 vom Schweizer Konsul Carl Lutz in Budapest gerettet, 1957 nach Österreich geflüchtet, wurde zum Gesicht des österreichischen Auslandjournalismus. Er ist unzähligen Politikern begegnet, sehr oft in Osteuropa und im Balkan – und das lange schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Gerne lässt er das die Leser wissen, nicht aus barer Eitelkeit, sondern aus dem Impetus, aus der fundierten Kenntnis dieses Terrains nach jahrzehntelanger Beobachtung ein Bild der gegenwärtigen Lage zu entwerfen.
Lendvai zielt nicht nur auf Politiker, sondern natürlich auch auf all die Intellektuellen, Reporter, Autoren, welche die Diktatoren und Verbrecher aller Grade von jeher hofiert haben, blind, ehrfürchtig, geschmeichelt: einst von einem Stalin oder Castro, heute von Putin. Den grossen Teil des Buchs belegen all die Fehleinschätzungen gegenüber der Sowjetunion und später Russlands, wie sie besonders der deutschen Sozialdemokratie unterlaufen sind, von Willy Brandt und seinem Berater Egon Bahr bis zu den heute aktiven Spitzenpolitikern.
Die «Schröder-Connection» und andere Beispiele
Eine späte und deshalb schon verstörende Illustration bot am Tag von Alexej Nawalnys Tod der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Jetzt wisse man genau, sagte dieser, was für ein Regime das sei. Jetzt erst? Was war denn mit den Morden an Anna Politkowskaja, Boris Beresowski, Boris Nemzow, Alexander Litwinenko oder Jewgeni Prigoschin?
Dass all dies, zumal in Deutschland, zu keiner untrüglichen Erkenntnis der Natur Putins führte, nicht einmal sein Einmarsch in der Ostukraine 2014, das wissen wir inzwischen zu unserer Beschämung. Lendvai beruft sich hier mit gutem Grund auf das im vorigen Jahr erschienene Buch der beiden FAZ-Journalisten Bingener und Wehner über die «Schröder-Connection», die erschütternde Recherche zu den gas-, öl- und geldgierigen SPD-Grössen, aber auch zur Kanzlerin Merkel, die für das Gas ihre Würde opferte. Unter dem Radar marschierten und marschieren hier österreichische Politiker ebenso begeistert mit, wie wir durch Lendvai aufs Neue lernen.
Ende der Illusionen am 22. Februar 2022
Lendvai greift weit in die Vorgeschichte zurück, schreibt über Sartre und Beauvoir, Chomsky und Sontag, aber auch über Shaw und Feuchtwanger. Nur Gide begriff nach einer Russlandreise 1936, was er im Terrorstaat Stalins erfahren hatte. Darüber noch einmal zu lesen, ist ein grosser Gewinn und zeigt erschütternde Kontinuitäten auf. Nach 1989, so legt Lendvai überzeugend dar, herrschte in den westlichen Demokratien die Euphorie ob neuer Märkte, Globalisierung, Neoliberalismus – Verheissungen, die blind machten gegenüber dem aggressiven, autoritären, revanchistischen Nationalismus, der sich nun ausbreitete. So bekam die Heuchelei ihre grosse neue Chance und endete am 22. Februar 2022 mit der ebenso grossen Desillusionierung.
Die Ausrede lautet bis heute, man sei getäuscht, in die Irre geführt worden. So reden etwa Frank Walter Steinmeier oder auch Angela Merkel, stellvertretend für viele ihrer Parteigenossen. Aber auch das stimmt eben nicht. Denn an eindringlichen und jahrelangen Warnungen, ob aus Polen, aus der Ukraine oder aus dem Baltikum hat es nicht gefehlt. Als grosse Ausnahme und als seinen Zeugen nennt Lendvai den von ihm verehrten früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck, der als einziger schon nach der Annexion der Krim 2014 klar Stellung bezog und Putins Politik verurteilte.
Deutsche Schuldgefühle gegenüber «Russland»
Lendvai verweist auf das tiefgründige Schuldgefühl gerade von Sozialdemokraten gegenüber «Russland», beziehungsweise der Sowjetunion, welche die grössten Opfer von allen im deutschen Vernichtungskrieg zu beklagen hatte. Nur ging darob vergessen, dass es vor allem das ausgeblutete Weissrussland und die Ukraine waren (und nicht das heutige Russland!). Das hätte man sich gerade gegenüber der Ukraine vergegenwärtigen müssen, schon im Konflikt um Nord Stream 2 etwa.
Europas Versagen in Ex-Jugoslawien
Ein anderes von Lendvai dargelegtes Beispiel jahrelanger Heuchelei betrifft Europas Politik gegenüber Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten. Heute, wo es um die endlosen Verhandlungen mit der EU geht, kann man es so ausdrücken: Die einen tun so, als wollten sie beitreten, die anderen, als wollten sie sich erweitern, wie Lendvai den Balkanspezialisten Norbert Mappes-Niediek zitiert. Lendvais Vorwürfe richten sich vor allem an europäische Politiker, die wiederum den USA die Lösung von Problemen überliessen, ob 1995 beim bosnischen Friedensschluss von Dayton oder 1999 den Nato-Luftschlag gegen Serbien, um den Kosovokrieg zu beenden –, während die EU-Mitglieder sich durch eine «Mischung aus Arroganz und Ignoranz» auszeichneten.
Auch in der Gegenwart sieht Lendvai in erster Linie eine von «innenpolitischen und persönlichen Machtinteressen geprägte Heuchelei» der gespaltenen EU am Werk. Dabei hört er in Serbien, Kosovo, Bosnien, Nordmazedonien «Zeitbomben» ticken. Er macht dafür auch die leichtfertigen Versprechen einer künftigen EU-Mitgliedschaft verantwortlich. Natürlich sind vor allem Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit seitens dieser Länder zu beanstanden, doch auf westlicher Seite (mit Namen von Macron bis Merkel) sieht Lendvai in der Balkanpolitik eine «Mischung von Gleichgültigkeit, Beschwichtigung und Heuchelei». Im Windschatten des schrecklichen Weltgeschehens kann nun der serbische Autokrat Vučić recht ungestört seine Vorlieben für China und Russland pflegen und vorneherum versichern, der EU beitreten zu wollen.
«Weltmeister des Zynismus»
Die EU kritisiert Lendvai auch in ihrem Verhalten gegenüber Viktor Orbans Ungarn, für den Autor der «Weltmeister des Zynismus». Dass er mit seiner «illiberalen Demokratie» so weit kommen konnte, wirft Lendvai auch einer EU vor, die ihn im Wesentlichen gewähren liess. Und er zitiert den in Princeton lehrenden deutschen Politologen Jan-Werner Müller, der konstatiert, das Zuschauen habe auch viel zu tun mit der deutschen Auto-Industrie und mit Angela Merkel, die immer gesagt hätte, «damit können wir leben». Der chinesische Autobauer BYD ist übrigens der nächste Grosskonkurrent, der sich in Ungarn niederlassen wird. Damit muss man dann leben.
Zum Kapitel Ungarn – für Lendvai von grosser Bedeutung – gehört George Soros, beziehungsweise der antisemitische Hass, dem der aus Ungarn stammende amerikanische Milliardär von Seiten Orbans und seiner Entourage ausgesetzt ist. Soros, den Nazis in Budapest wie Lendvai mit Glück entkommen, verkörpert alles, was Orban hasst. Zuvorderst ein Milliardenvermögen, das Soros seit Jahrzehnten und schon lange vor dem Fall der Mauer in den Aufbau demokratischer Strukturen steckte, besonders im ehemaligen Ostblock: seit 1979 insgesamt 34 Milliarden Dollar gemäss Forbes.
«Wunderwuzzi» Sebastian Kurz
In Lendvais Panorama der Heuchelei und im Anschluss an Orban kann sein Österreich nicht fehlen, verkörpert durch den Wunderwuzzi Sebastian Kurz. Der wurde zwar soeben verurteilt wegen Falschaussagen und Korruptionsverdacht. Kurz ist, so zeigt es auch Lendvai, schon als Person die perfekt verkörperte Heuchelei. Das haben all die geheimen Chats nach der Ibiza-Affäre sinnfällig enthüllt. Inzwischen hat er sich längst eine lukrative neue Existenz aufgebaut, im Dunstkreis diverser dubioser Figuren wie Peter Thiel (Lendvai: «bizarrer Investor») und René Benko sowieso.
Es wird einem bei der Lektüre schwindlig, wenn Lendvai das neue Kurz-Milieu, von Wien über Aserbeidschan bis Saudi-Arabien mit Zwischenhalt in Tel Aviv, schildert, das so neu nicht ist. Kontakte hat der «Netzwerker» längst vor seinem Rücktritt geknüpft. Und er ist heute auch nicht die Privatperson, als die er sich geriert, sondern, wie Lendvai meint, ein «Schattenkanzler», der nicht ausschliesst, doch noch einmal an den Ballhausplatz zurückzukehren, ein «Virtuose der politischen Heuchelei» in Lendvais Worten.
Paul Lendvai: Über die Heuchelei. Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik. Zsolnay 2024, 188 S., Fr. 33.90