Ich bin kein Sportler. In der Schule habe ich mich vom Turnunterricht gerne mit allerlei Ausreden dispensiert oder ihn einfach geschwänzt. Ich bin auch kein Philosoph, höchstens ein Küchen- oder Hobbyphilosoph, der sich – hochnäsig und ignorant – oft gefragt hat, wieso sich die Philosophie immer noch mit den gleichen Fragen herumschlägt wie schon im alten Griechenland, ohne dass dabei viel Neues zu erkennen wäre.
Und jetzt, in fortgeschrittenem Alter, konstatiere ich mit einiger Verwunderung, dass mich die Versäumnisse meiner Jugend eingeholt haben – eingeholt, obschon ich mich eigentlich während meiner „philosophischen Ausflüge“ nur langsam bewege, nämlich im Zürichsee schwimmend.
Dabei haben es mir weder Ärzte nahegelegt, in der Morgendämmerung in der Badehose zum nahen See hinunterzugehen, noch Pfarrer oder Psychologen empfohlen, über das Leben nachzudenken. Und doch schwamm ich vom Mai bis Ende September, bevor die ersten Herbststürme übers Land fegten, fast täglich im See, schaute, auf dem Rücken paddelnd, wie die Sonnenstrahlen die Wölklein über dem Albis in rötliches Licht tauchten und am gegenüberliegenden Ufer von den Fensterscheiben als gelb-orange Schweinwerfer zurückgeworfen wurden, wie später das Licht über dem See näher kam, zuerst die Mastspitzen der an den Bojen verankerten Segelboote einfing, dann den Masten entlang zum Wasser hinunter glitt und schliesslich auch den einsamen Schwimmer draussen im See fand.
Doch denken Sie ja nicht, ich sei ein heroischer Ganzjahresschwimmer, wie es hier am Zürichsee einige gibt. Erst ab einer Wassertemperatur von 18 Grad beginne ich mein Sommerritual. Anfangs braucht es jeweils einige Überwindung, auf dem unebenen Seegrund ins Wasser zu wanken und sich dann mutig ganz in die Fluten zu stürzen. Während der ersten Züge auf meiner genau bestimmten Route durch das Bojenfeld hinaus zu jenem blauen Segelboot, das ich seinen Platz in all den Jahren noch nie verlassen gesehen habe, beschränkt sich mein stilles Selbstgespräch auf einfache Fragen, zum Beispiel wieso ich es mir antue, das warme Bett so früh mit dem kalten Wasser zu vertauschen und ob ich mir eigentlich beweisen müsse, noch rüstig zu sein und das Alter nicht zu fürchten.
Die grösseren Themen kommen erst später, wenn ich alle Schiffe hinter mir gelassen und Kurs auf die Steinburghab hinter dem Gebäude der Küsnachter Seeretter genommen habe. Arme und Beine bewegen sich nun automatisch. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit stellt sich ein. Die Gedanken lösen sich vom Körper, fliegen hinauf in den Himmel zu den kreisenden Möwen, die mich eben noch im Sturzflug angepeilt und erst kurz über meinem Kopf abgedreht haben, weil sie mich als ungeeignete Beute taxieren. „Dort schwimmt ein Etwas“, sagt mein Ich dort oben am morgendlichen Himmel, „was ist denn das, dieses bleiche Stück Fleisch?“
Ja, was ist der Mensch? – Ich weiss es immer weniger, je älter ich werde. Gleichzeitig wächst auch mein Verständnis für jene Philosophen, welche sich, ehrlich und immer wieder neu, mit „der Mutter aller philosophischen Fragen“ abmühen und dabei letztlich vor deren Komplexität kapitulieren. Umso suspekter werden mir gleichzeitig jene „Gebrauchsphilosphen“, Glücks- oder Weltuntergangsapostel, welche den Lesern in ihren Büchern vorspiegeln, sie hätten die Antwort gefunden. Ich wundere mich besonders dann, wenn sie alle, scheinbar überzeugend und immer im Namen der Wissenschaft argumentierend, die widersprüchlichsten Bilder zeichnen.
Eine Zeitlang war es Mode, den Menschen in düsterem Licht zu sehen: Ein egoistischer Tölpel sei er, welcher seine eigene Lebensgrundlage zerstöre, seine Mitmenschen hintergehe und unterdrücke. Ein Tier solle man ihn allerdings nicht nennen, denn das sei eine Beleidigung für die Tiere, welche eben gerade nicht so seien, nicht aus purer Lust zerstörten oder mordeten, sondern nur aus der Notwendigkeit des Überlebens heraus.
Meine Gedanken werden jäh vom Himmel geholt: Vom nahen Schiffssteg legt das Frühschiff nach Thalwil ab. In einem grossen Bogen dreht es in den See hinaus. Sein Heck kommt bei diesem Manöver dem Ufer gefährlich nahe. Um nicht in seine Bahn zu geraten, schwimme ich rasch in die kleine Nische zwischen dem Gebäude der Seeretter und der Hafenmauer, wo für die Wasserung von Schiffen eine Rampe in den See hinausführt. Hier verharre ich einige Minuten, bis sich die Wellen des auslaufenden Schiffes zwischen den Mauern ausgetobt haben.
Auf dem Rückweg helfen dem Rückenschwimmer beim Navigieren der mächtige Kastanienbaum beim Hotel Sonne und der Fahnenmast auf der Hafenmauer, an dem ein Angestellter der Gemeinde jeden Sonntag die Küsnachter Fahne hisst. Wenn Baumspitze und Mast auf einer Linie liegen, bin ich auf dem richtigen Kurs, um ausserhalb des Bojenfeldes zu bleiben und doch nicht zu weit in den See hinaus zu geraten, wo um diese Zeit die Boote des Ruderclubs Küsnacht wie spitze Lanzen das Wasser zerschneiden, begleitet von ihrem Trainer im Motorboot, der Ruderinnen und Ruderer mit dem Megaphon zur Höchstleistung anspornt.
Geruhsam auf dem Rücken paddelnd nehme ich mein philosophisches Selbstgespräch wieder auf. Beim schlechten Menschen bin ich stehen geblieben. Dem Physiker kommt das Pendel in den Sinn, das ihn lehrte, jede Bewegung löse über kurz oder lang eine Gegenbewegung aus – nicht nur in der Physik, auch in der Mode, der Politik, im wissenschaftlichen Denken und der Philosophie. So war es also höchste Zeit, das Pendel zurückschwingen zu lassen und dem schlechten Menschen wieder etwas Güte einzuhauchen. Kürzlich ist mir ein Buch des jungen holländischen Historikers Rutger Bregman (geboren 1988) in die Hände gekommen, „Im Grunde gut“ (1), laut Aufkleber ein Spiegelbestseller. Auf dem Schutzumschlag steht: „Dass der Mensch grundsätzlich böse sei, ist ein Grundpfeiler westlichen Denkens.“ Im Untertitel verspricht der Autor nicht weniger als „Eine neue Geschichte der Menschheit“. – Menschheitsgeschichten haben seit Yuval Harari (2) offensichtlich Hochkonjunktur.
Mir scheint, das Vorgehen solcher Bücher sei immer das gleiche: Anhand ausgewählter Zitate und Episoden wird bewiesen, was man zu beweisen sich vorgenommen hat, wobei die Episoden an sich durchaus interessant und für sich überzeugend sein können. Zu Bregmans Kronzeugen gehören jene sechs Jungen, welche im Jahre 1977 auf der Insel Tonga ein Boot stahlen, ins Meer hinaus zum Fischen fuhren, in einem Sturm die Orientierung verloren und schliesslich auf einer kleinen Insel strandeten, wo sie mehr als ein Jahr allein überlebten, bis sie zufällig von einem Schiff entdeckt und gerettet wurden. Die Art, wie sie sich organisiert hätten, so Bregman, zeige eben, dass der Mensch im Grunde gut sei.
Nur, so schön diese Geschichten und ähnliche, die als Zeugen aufgeführt werden, auch sind, es gäbe für das Gegenteil ebenso viele Zeugnisse. Aber das ist gar nicht der Punkt, denn mit ausgewählten Beispielen und einer passenden Brille lässt sich jedes Menschenbild beweisen. Die wirkliche Wahrheit über den Menschen scheint mir anders zu sein, facettenreich und voller Widersprüche, und diese auszuhalten fällt dem Menschen schwer.
Rechts taucht das erste Schiff des Bojenfeldes auf, ein grau-gelbes Motorboot. Von dessen hinterer Plattform springt ein Blesshuhn ins Wasser und schwimmt laut rufend auf mich zu. Unter der Bootsabdeckung hat es sich ein Nest gebaut und verteidigt jetzt seinen Nachwuchs. Ich wechsle zum Brustschwumm. „Im Grunde gut“, möchte ich ihm beruhigend zurufen, aber ich bin nicht sicher, ob es sich so leicht von einem schwimmenden Zweifler beschwichtigen lässt, auch wenn dieser einen Historiker zum Zeugen wählte.
Ich nehme nun Kurs auf das blaue Segelschiff und wende mich wieder der Was-ist-der-Mensch-Frage zu. – Gut, böse oder etwas Drittes? Würde sich dazu nicht die Eigenschaft „selbstreflexiv“ anbieten, welche uns zum vernünftigen Handeln befähigt, wenn wir es denn wollen? – Zugegeben, Vernunft und Aufklärung sind in letzter Zeit arg unter Druck gekommen, in Ost und West. Vielleicht auch haben sie gewisse Köpfe gar nie erreicht. Ich denke an gewisse Politiker, an die vielen „aufgeklärten“ Menschen in den USA, welche im wörtlichen Sinn an die biblische Schöpfungsgeschichte glauben und die Evolutionslehre verdammen, ich denke auch an die demonstrierenden Covid19-Gegner und hoffe, das Virus nehme ihre Gegnerschaft ernst.
Zurück zur Vernunft. Sie fand in Immanuel Kant ihren gewichtigsten Anwalt, doch auch ihm bläst in diesen schweren Zeiten der Biswind ins Gesicht. Zwar gibt es bislang keine Bilder von Demonstranten, welche Plakate durch die Strassen tragen, auf denen steht: „Nieder mit Kant“ oder so ähnlich. Kant droht Verdruss von anderer Seite: „Darwin schlägt Kant“, verkündet Frank Urbaniok (3). Sein Buch, obschon stellenweise kompliziert und etwas langfädig, vermittelt eine wichtige Botschaft: So wie die physische Natur des Menschen, sein Körperbau und seine biochemischen Reaktionen die Spuren seiner genetischen Abstammung tragen, gelte dies auch für unsere psychische Struktur, für unser Denken, ganz besonders für die schnellen Reflexe, welche viele unserer Handlungen bestimmten – unter Umgehung des Verstandes. Daher könne der Mensch, so Urbaniok, höchstens partiell jenes rationale Wesen sein, welches Kant in seiner Analyse voraussetzt.
Urbaniok, der erfahrene Beobachter der menschlichen Seele und ihrer Abgründe, unterstellt den Menschen weder dem Bösen noch dem Guten, sondern der Evolution, beziehungsweise der DNA. Das ist immerhin ein wohltuender Fortschritt gegenüber den einseitigen Menschenbild-Aposteln. Trotzdem stört mich sein plakativer Buchtitel: Soll damit wirklich gesagt sein, in unserem Menschsein habe Charles Darwin gegenüber Immanuel Kant die Oberhand? Bedeutet nicht der Appell an die Vernunft den, wenn auch oft kläglichen, Versuch, sich über unseren inneren Darwin zu erheben? Müsste man nicht trefflicher sagen: „Kant ringt mit Darwin“ und es dabei offen lassen, wer wen besiegt und wann? Ich weigere mich, gegenüber Darwin zu kapitulieren. Machen wir es uns als Menschen nicht ein bisschen einfach, dem einen, nämlich Darwin, unser Handeln kampflos zu überlassen?
Ich schwimme an der roten Boje des blauen Seglers vorbei dem Ufer zu und bin erneut erstaunt, wie nahe man sein muss, bis die Füsse Grund finden, wo mich nicht Kant, sondern kantige Steine erwarten. Ich trockne mich ab, ziehe mein T-Shirt über und gehe auf dem Holzsteg zur kleinen Bootswerft, deren Chef bereits die Blumen gegossen hat und jetzt in der offenen Halle an einem Boot hantiert. Wenn ich die Seestrasse überquere, müssen die Banker von der Goldküste auf dem Weg zur Arbeit in ihren schwarzen Limousinen und Sportwagen für den tropfnassen Pensionär kurz anhalten. Einige nicken freundlich, wenn ich ihnen mit einem Handzeichen danke (Kant besiegt Darwin), andere drücken entnervt aufs Gas, bevor ich das andere Trottoir erreicht habe. Jetzt freue ich mich auf die Dusche, das Morgenessen mit meiner Frau und die Aussicht, morgen die Geschichte der Menschheit wiederum ganz neu denken zu dürfen.
(1) Rutger Bregman: Im Grunde gut. Rowohlt, 2019
(2) Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlagsanstalt, 2013
(3) Frank Urbaniok: Darwin schlägt Kant. Orell Füssli, 2020
Fotos: Dieter Imboden