Im Laufe diese Sommers zeichnete sich eine gewaltige Enttäuschung ab. Die neu erstandene Marke Horex kam nicht auf die Beine. Die Manufaktur in Augsburg blieb weit hinter den Stückzahlen zurück, die der Gründer und Chef Clemens Neese gegenüber Journal 21 als überlebensnotwendig bezeichnet hatte. Statt der angepeilten 500 Maschinen, die in diesem Jahr in Deutschland verkauft werden sollten, betrug die Zahl der Neuzulassungen laut Industrieverband Motorrad in der ersten Jahreshälfte 2014 nur 69.
Faszinierender Nonkonformismus
Das ist traurig. Denn Clemens Neese und seine Leute hatten wirklich etwas ganz Innovatives auf die Beine gestellt. Jenseits des Mainstreams haben sie ein Motorrad präsentiert, das mit Leidenschaft und Verstand konstruiert ist und dem man in jeder Weise anmerkt, was es heisst, es einmal mit keinem international marktkonformen Massenprodukt zu tun zu haben. Das war ungeheuer faszinierend.
Das Team um Clemens Neese ist hochprofessionell und in internationalen Unternehmen bewährt. Warum es letztlich scheiterte und jetzt nur noch geringe Chancen auf die Fortführung der Marke bestehen, wird im Einzelnen zu untersuchen sein. Noch laufen Verhandlungen mit potentiellen Investoren, und laut Angaben auf der Website hat sich eine Tür nach Asien geöffnet. Und auf Messen ist die Marke weiterhin präsent.
Retro ist in
Aber was tut sich im Mainstream? Da sind nun auch nicht alle Katzen grau. Ganz im Gegenteil. Auf den grossen Messen kann man beobachten, wie Marken, die lange Zeit in der Versenkung verschwunden waren, wiederbelebt werden: Norton, Indian, Victory. Und grosse Marken wie Ducati, Moto Guzzi und Triumph schaffen einen beachtlichen Spagat. Sie beleben traditionelle Formen und marschieren gleichzeitig an der Spitze des Fortschritts.
Und erst die Japaner. Es ist frappierend, wie sie sich aus dem Zitatenschatz europäischer und eigener „Klassiker“ bedienen, um jetzt Modelle anzubieten, die den Charme der Vergangenheit mit dem technischen Knowhow der Gegenwart verbinden. Da gibt es sehr gelungene Synthesen.
Der deutsche Marktführer und der Zweite in der Schweiz ist BMW Motorrad. Die R 1200 GS Adventure ist das meistverkaufte Motorrad der Welt, und diese Maschine kann ja auch alles: Langstrecke, Stock und Stein – und die Fahrt ins Büro. Man sieht sie an jeder Strassenecke. Sie ist der Stoff, aus dem die Träume sind, jedenfalls die Träume derjenigen, die eine Fahrt im Blick haben, die sie vielleicht selbst nie antreten.
Die Magie der Kreiskräfte
Aber zu jedem Motorrad gehört diese Generierung einer eigenen Wirklichkeit, die nicht nur mit dem Aussehen zu tun hat, sondern auch mit den physikalischen Eigenheiten. Wer ein Motorrad fährt, hat es mit Kreiselkräften und Dynamiken zu tun, die ihm keine andere Fortbewegungsmaschine bietet. Das ist der Punkt, auf den der Motorrad-Experte und Motorrad-Theoretiker Bernt Spiegel immer wieder hinweist. Darin liegt eine spezifische Magie, die auf ganz unterschiedliche Weise in den Formen zum Ausdruck kommt - die aber auch die motorradlose Zeit des Winters jedes Mal wieder schwer macht.
Das Spitzenmodell R 1200 GS Adventure würde keine Schönheitskonkurrenz gewinnen. Ihre Magie liegt also ganz sicher nicht in der Schönheit. Bei dem einen oder anderen Modell kann man vielleicht streiten, aber BMW ist eher deutsch als elegant: Man kann das auch praktisch nennen. Nun hat BMW Anfang dieses Jahres ein Modell auf den Markt gebracht, das Charme, Verspieltheit und technische Perfektion verbindet: die R nineT. Prompt überstieg die Nachfrage die Produktionskapazität.
Der Witz an der R nineT ist, dass an ihr beliebig herumgeschraubt werden kann. Darin unterscheidet sie sich von praktisch allen BMW-Motorrädern der neueren Zeit. Viel mehr als einen Aufkleber zur individuellen Gestaltung kann man bei den meisten Modellen von BMW nicht anbringen. Doch nun sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt, und BMW Motorrad liess zum Beispiel auf der Swiss Moto im Februar 2014 in Zürich verschiedene Händler ihre Versionen der R nineT präsentieren.
Prinzip Customizing
Harley-Davidson hat dagegen schon immer auf das „Customizing“ gesetzt. Man kann darüber spekulieren, ob die Marke damit aus der Not eine Tugend gemacht hat. Die Not bestand darin, dass in den 1960er Jahren der Umbau der Maschinen seitens einer nicht besonders illustren Kundschaft zur grossen Mode wurde. Weltweit bekannt wurden die fantasievoll gestalteten Harleys in „Easy Rider“. Den Ingenieuren in Milwaukee jagten diese Maschinen das pure Grauen ein. Vermutlich entschloss man sich deswegen, eigene Baukästen anzubieten, damit die Kunden nicht allzu sehr über die Stränge schlagen. Und im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass Harley-Davidson mit dem Customizing mindestens soviel verdient wie mit dem Verkauf fabrikneuer Maschinen.
Unausgesprochen besteht für Harley-Davidson ein Problem darin, dass diese Marke aufgrund des Images, etwas Antibürgerliches, Rebellisches, vielleicht sogar Ausgeflipptes zu haben, auch eine Kundschaft mit dem Hang zum Ordinären anzieht. Für diesen Teil der Kundschaft können die Maschinen seit einigen Jahren nicht mehr laut genug sein.
Die Überraschung
Das zeigt sich ganz besonders an Orten mit erhöhtem touristischen Harley-Davidson Aufkommen, zum Beispiel in Südfrankreich und an der Côte d`Azur. Dort bevorzugen insbesondere grossvolumige Paare einen Sound, der noch durch dickste Fenster und Mauern dringt und die Frage provoziert, ob es etwas ganz Spezielles gibt, was sie damit ihrer Umwelt mitteilen wollen. Oder handelt es sich hier um eine besondere Ausprägung der Wutbürger?
Als Harley-Davidson im Herbst Medienvertreter einlud, um einzelne Modelle des Jahres 2015 zu präsentieren, konnten sich gemischte Gefühle einstellen. Würde noch mehr geröhrt, gebrüllt und gepoltert? Doch diesmal gab es eine Überraschung. Behutsam, bedächtig, aber durchaus energisch hat die Marke an technischen Schwachpunkten gearbeitet und zudem das Design aufgefrischt, ohne dabei den Markenkern zu verlassen. Und der Lärm hält sich in Grenzen.
Das Konzept dahinter besteht darin, dass sich Harley-Davidson unter dem Motto „Rushmore“ systematisch den Kundenwünschen zugewandt hat. Auf der Basis aufwendiger Befragungen wurde an zahllosen technischen Details gearbeitet. Zum Teil sind sie sichtbar, zum Teil nicht, auf jeden Fall aber sind sie spürbar.
Eines der nettesten Gefährte des kommenden Jahres ist die Softail Breakout. Zwei Eigenschaften fallen über das ansprechende Design hinaus sofort auf: Beim Fahren stellt sich ein für Harley-Davidson ungewöhnliches Gefühl der Leichtigkeit ein, und die Bremsen sind enorm effizient. Kein Vergleich mehr zu einigen früheren Modellen, bei denen mit und ohne ABS das Bremsen im Vergleich zu anderen Marken kraftaufwendig und nicht gerade vertrauensbildend war.
Spitzenmodelle sind die Road Glide Special und die Street Glide Special. Das sind gewichtige Klassiker und überhaupt die meistverkauften Modelle von Harley-Davidson, jedenfalls in den USA. Die jetzt vorgestellten Modelle sind wendiger und agiler geworden. Und gerade an ihnen kann man sehen, wie gekonnt Technik und Design modernisiert werden, wobei der ursprüngliche Biss erhalten wird.
Nach wie vor steht Harley-Davidson in der Schweiz an erster Stelle bei den Verkäufen. Es gibt Marken wie zum Beispiel Victory, die mit ihren modernisierten Retro-Modellen, die zudem preisgünstiger sind, den einen oder anderen Harly-Davidson-Kunden abspenstig machen. Aber gerade der Trend zum Retro bei anderen Herstellern stärkt wiederum die Marke Harley-Davidson. Denn hier sind die Modelle nicht retro, sondern die stete Weiterentwicklung eines einmal eingeschlagenen Weges. Darin liegt ihre eigene Überzeugungskraft.