Für China-Experten, Diplomaten, Journalisten und selbst für Insider der Kommunistischen Partei kam anfangs Jahr die Ernennung von Luo Huining zum neuen Direktor des Verbindungsbüros der Volksrepublik in der Sonderverwaltungszone Hongkong völlig überraschend. Für Aufmerksamkeit oder gar Schlagzeilen freilich sorgte das in westlichen Medien und im Polit-Milieu nicht. Allenfalls da und dort eine Kurzmeldung oder eine knappe Erwähnung.
Gewalttätige Chaoten
Viel wichtiger in westlichen Medien und Polit-Komentaren waren und sind Nachrichten über gewalttätige Chaoten, die in der sieben Millionen Einwohner zählenden Stadt nach amerikanischer und britischer Auffassung die Freiheit verteidigen und Demokratie fordern. Die friedlich protestierenden Bürger beweisen allerdings, dass im wichtigen asiatischen Wirtschafts- und Finanzzentrum die seit der Rückkehr zu China 1997 in der Basic Law festgeschriebenen Freiheiten – Versammlungs-, Meinungs- oder Pressefreiheit sowie eine unabhängige, rechtsstaatliche Justiz – nach wie vor garantiert sind und von der Pekinger Zentralregierung minutiös respektiert werden.
Verfehlte Wirtschaftspolitik
Die breiten friedlichen Proteste sind vielmehr Ausdruck einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik der jetzigen Hongkonger Regierung und deren Vorgänger. Auch die Ernennung des neuen Direktors des Verbindungsbüros weist in diese Richtung. Luo Huinings Vorgänger Wang Zhimin, ein ausgewiesener Hongkong-Kenner, musste wohl zurücktreten wegen der Distriktwahlen im November, die für das Pro-Peking-Lager zum Desaster wurden. Inmitten der seit über einem halben Jahr andauernden Proteste hat Wang die Lage für Peking wohl falsch oder zu wenig genau analysiert und kommuniziert.
Im Schweinekoben
Parteichef Xi Jinpings pragmatischer Personalentscheid ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich und für die Zukunft, nicht nur Hongkongs, wegweisend. Luo Huining entstammt einer Generation, die während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966–1976) geformt wurde. Millionen Jugendliche wurden auf Anordnung Mao Dsedongs „aufs Land heruntergeschickt“, um von den „Massen“ zu lernen. So haben auch Xi und Luo die Wirklichkeit sozusagen im Schweinekoben am eigenen Leib erlebt.
Qinghai
Luo wurde mit 17 Jahren zum Stahlarbeiter. Erst mit der vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping angefachten Wirtschaftsreform und Öffnung nach aussen wurde Luo zum Studium zugelassen. An der Universität in der Provinz Anhui schloss er mit einem Master in Politischer Ökonomie ab und wurde 1982 Parteimitglied. Von der Kreis- bis auf die Provinzebene diente sich Luo politisch hoch und wurde 1999 Propagandachef der Provinz Anhui. Noch einmal drückte Luo die Schulbank und doktorierte 2003 mit Auszeichung in Management und Politischer Ökonomie. Über zehn Jahre verbrachte er danach in der Nordwest-Provinz Qinghai. Zunächst als Stellvertretender Gouverneur, dann als Gouverneur und schliesslich als Parteichef brachte er die ärmliche Provinz weiter. National wurde er zunächst alternierendes Mitglied des Zentral-Komitees der Partei, danach auch seit 2012 Vollmitglied.
Abseits der Hauptstadt
Luos Karriere spielte sich auch weiter abseits der Hauptstadt ab, als er 2016 zum Parteichef der Zentralprovinz Shanxi berufen wurde. Es war nicht irgendeine Provinz, sondern eine durch Korruption und Vetternwirtschaft bis in die oberen Ränge geplagte Krisen-Provinz, die als „politisches Minenfeld Chinas“ galt. Luo gelang es, die Parteidisziplin durchzusetzen und die an natürlichen Ressourcen reiche Provinz wirtschaftlich erstarken zu lassen.
Problemlöser
Zeit seines politischen Lebens erarbeitete er sich eine Reputation als pragmatischer Problemlöser und konsensfähiger Vermittler. Er ist damit Vertreter eines neuen Typs im merokratischen, autoritären System Chinas: sauber, pragmatisch, langfristig denkend, lösungsorientiert, loyal. Heute gilt vor allem Loyalität zur Partei und zu Xi Jinping und nicht mehr wie in den ersten Reformjahrzehnten die Zugehörigkeit zu einer Fraktion. Etwa zur Sichuan-Fraktion von Deng Xiaoping oder zur Shanghai-Fraktion von Parteichef Jiang Zemin (1989–2002).
Pension
Im November 2019 freilich musste Luo als Parteisekretär von Shanxi zurücktreten. Aus Altersgründen. In der Volksrepublik gilt seit Beginn der 1980er Jahre für Stellvertretende Gouverneure, Parteisekretäre oder Minister ein Rentenalter von 60 Jahren, für Minister, Gouverneure und Parteisekretäre von 65 Jahren. Wie in solchen Fällen üblich wurde Luo bis zur endgültigen Rente von 68 Jahren Ende Dezember in den Nationalen Volkskongress (Parlament) versetzt als Stellvertretender Direktor des Finanz- und Wirtschaftskomitees.
Frische Perspektive
Soweit, so gut. Doch nur sieben Tage später wurde Luo aus der Halbrente wieder voll aktiviert als Direktor des Verbindungsbüros der Volksrepublik in Hongkong. Parteichef Xi zeigte mit diesem Personal-Entscheid, dass bei Bedarf in Zukunft besonders fähige Kader durchaus wieder über das reguläre Pensionsalter voll eingesetzt werden können. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hat Luo keinerlei Erfahrung mit Hongkong oder internationalen Angelegenheiten. Doch er ist ein Wirtschaftsfachmann par excellence, gerade das, was in Hongkong seit Jahren dringend nötig ist. Peking ist sich zwar der komplexen, delikaten Situation Hongkongs durchaus bewusst, doch Luo könnte mit einer frischen Perspektive sowie akkuraten und möglichst objektiven Informationen der Zentralregierung bessere Einschätzungen ermöglichen.
„Orientalische Perle“
Gleich in der ersten Woche im Amt konferierte Luo mit dem ersten Hongkonger Chef Tung Chee-hwa und dessen Nachfolger Leung Chun-ying sowie mit der amtierenden Chefin Carrie Lam Cheng Yuet-ngor. Substantielles war natürlich nach den Gesprächen noch nicht zu erfahren. Das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ wurde betont, die Notwendigkeit die gewaltsamen Proteste zu unterbinden sowie die Wirtschaft – 2019: minus 1,3 Prozent – wieder anzukurbeln. Luo sparte zuhanden der Hongkonger Bevölkerung nicht mit dickem Lob. Er nannte die Stadt eine „orientalische Perle“, die viel zur Reform und Öffnung Chinas beigetragen habe. Aber, Xi paraphrasierend, erinnerte er auch daran, dass eine harmonische und stabile Umgebung zwingend nötig sei für ein friedliches, arbeitsames Leben.
Innovations-Zentrum
Nicht von ungefähr besuchte Luo Huining kurz nach Amtsantritt auch die gleich nördlich von Hongkong liegende chinesische 12-Millionen-Metropole Shenzhen und führte Gespräche mit Bürgermeister Chen Ruigui und Parteichef Wang Weizhong. Im Grossraum des Perlflussdeltas mit Hongkong, Macau, Shehzhen und Guangzhou sowie sieben weiteren Städten mit über 80 Millionen Einwohnern entsteht langfristig ein Zentrum von Innovation und Produktion.
Hoffnung
Viele Hoffnungen liegen dabei auf Luo, Pekings neuem Mann in Hongkong. Liu Xiaobing, Rechtsprofessor und Hongkong-Spezialist an der Tianjin-Universität wird dazu von der renommierten Hongkonger South China Morning Post mit folgenden Worten zitiert: „Luo gelang es, die Shanxi-Krise zu lösen, und er fand einen Weg für die Provinz in die Zukunft. Es ist zu hoffen, dass er mit seiner Fähigkeit, Probleme zu lösen, auch Hongkong vorwärts bringen kann“.