Man malt sich schon aus, welches die nächste Anordnung sein könnte. Vielleicht die, dass Pausenäpfel Schweizeräpfel sein müssen. Oder in Schulkantinen und an Mittagstischen dreimal pro Woche Rösti und zweimal Birchermüesli serviert werden muss. Oder Elternabende mit einem Fondueessen abzurunden sind. Und weshalb sollten die 700 000 Volksschüler nicht in adrette rot-weiss-farbene Schuluniförmchen gesteckt werden? Weshalb sollten sie nicht jeden Morgen vor der ersten Schulstunde die Landeshymne singen?
Soweit sind die Herren und Damen Erziehungsdirektoren noch nicht. Einstweilen begnügen sie sich mit dem Gedanken, die Landeshymne, auch Schweizer Psalm genannt, in den Schulen zum Pflichtstoff zu erklären. Ist es einmal so weit, werden, darf man annehmen, die Schüler ihre Lehrperson mit fragenden Augen anstarren, wenn diese ihnen den Hymnentext verteilt.
Erste Strophe
Trittst im Morgenrot daher,
Seh’ ich dich im Strahlenmeer,
Dich, du Hocherhabener, Herrlicher!
Wenn der Alpenfirn sich rötet,
Betet, freie Schweizer, betet!
Eure fromme Seele ahnt
Eure fromme Seele ahnt
Gott im hehren Vaterland,
Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.
Vielleicht würden die Schüler sogleich den Begriff „Strahlenmeer“ oder „Alpenfirn“ googeln, und basierend auf der Rötung des Alpenfirns könnte die Lehrperson gleich auch ein bisschen Spektralanalyse erklären und versuchen, daraus einen Zusammenhang mit den frommen Seelen betender Schweizer abzuleiten. Es läge unbestreitbar ein interessanter Unterrichtsstoff vor.
Schweizer Kreuz gegen Feindflugzeuge
In jüngerer Vergangenheit hat sich ein starkes Bedürfnis verbreitet, die sicht- und hörbaren Zeichen von Patriotismus herauszukehren – und das auf individueller wie auf kollektiver Ebene. In Gärten und Parks flattern Schweizerfahnen zuhauf, Tausende von Patrioten ziehen regelmässig ihre Schweizer-Kreuz-T-Shirts an, Abertausende bemalen ihr Gesicht mit Schweizer Kreuzchen, bevor sie sich an Sportanlässen auf den Zuschauertribünen in den Kampf werfen.
Auch im Nationalratssaal muss, einem Mahnmal gleich, stets eine Schweizer Fahne präsent sein, wenn die Volksvertreter ihres Amtes walten. Und nicht nur das. Die Luzerner SVP-Nationalrätin Yvette Estermann, die Ärztin mit dem merkwürdigen und bemerkenswert langen Doktortitel, hat neulich erreicht, dass das Emblem nicht mehr nur während der Sessionen, sondern dauernd auf der Bundeskuppel flattern muss.
Wohin diese Beflaggungsmanie noch führt? Mag sein, dass sich dieser oder jener Hausbesitzer anschickt, sein Dach wieder mit dem Schweizer Kreuz zu bemalen und diese oder jene Gemeinde auf freiem Feld eine mit dem Schweizer Kreuz bemalte Bühne installiert. Wie während des Zweiten Weltkriegs, als solche Bemalung Feindflugzeugen signalisierte: Schweizer Territorium, keine Bomben werfen! Feindflugzeuge sind zwar keine in Sicht, aber, aus Sicht unserer Neo-Patrioten, sonst viel feindliches Ungemach.
Zweite Strophe
Kommst im Abendglühn daher,
Find’ ich dich im Sternenheer,
Dich, du Menschenfreundlicher, Liebender!
In des Himmels lichten Räumen
Kann ich froh und selig träumen!
Denn die fromme Seele ahnt…
Der sich schmückende und psalmodierende Patriotismus ist gewissermassen das Geschwisterchen des zunehmenden Hanges, Kraft in Legenden und Mythen zu schöpfen. Im laufenden Erinnerungsjahr ist dieser Hang geradezu virulent; die alten Eidgenossen, Morgarten, Marignano erfahren gleichsam eine Renaissance.
Verwandelter Ueli Maurer
Die plötzliche Faszination durch die um Jahrhunderte zurückliegenden Taten unserer Ahnen lässt sich an einem Mann exemplifizieren: Ueli Maurer. Im Frühsommer 2007 liess der damalige SVP-Präsident noch verlauten: „Das Rütli ist nur eine Wiese mit Kuhdreck.“ Solche Nüchternheit im Umgang mit einem immerhin ziemlich sagenumwobenen Ort sorgte seinerzeit für Aufsehen. Vergangenes Wochenende setzte sich ein verwandelter Ueli Maurer in Szene. Anlässlich der Gedenkfeier für die Schlacht bei Morgarten (1315) verstieg sich der Verteidigungsminister in geschichtsphilosophische Höhen und vertraute irgendeinem Mikrophon an, es sei gar nicht so wichtig, ob (was umstritten ist) die Schlacht am Morgarten stattgefunden habe, wichtig sei vielmehr der Mythos Morgarten.
Überhaupt wird gegenwärtig die Bedeutung von Mythen hervor gestrichen, ganz so, als zählten sie zu den unentbehrlichsten Lebensmitteln. Und es dünkt einen, die Mythen-Advokaten orientierten sich an Karl Marx, der anno 1844 in einem Traktat festhielt: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Unsere Mythen sollen, so scheint es, die Leiden an unserer heutigen herzlosen Welt lindern. Insofern gehören sie, könnte man sagen, zur Familie der Volks-Opiate.
Dritte Strophe
Ziehst im Nebelflor daher,
Such’ ich dich im Wolkenmeer,
Dich, du Unergründlicher, Ewiger!
Aus dem grauen Luftgebilde
Tritt die Sonne klar und milde,
Und die fromme Seele ahnt…
Zwischen jenen, die ihren Patriotismus laut und mit monopolistischem Anspruch deklamieren, und der Politik, die sie im Alltag betreiben, besteht eine merkwürdige Korrelation. Die Berufung auf eine ferne Vergangenheit liesse eigentlich vermuten, diese Patrioten müssten der Schweiz ganz besonders Sorge tragen. Sie selber verstehen sich natürlich als die, die das vor allen andern tun. Weshalb aber sagen sie stets nein, wenn Gesetze zur Bewahrung einer intakten Lebenswelt gemacht werden? Weshalb vergessen sie den im Schweizer Psalm mehrfach angerufenen Gott (Du Herrlicher, Menschenfreundlicher, Liebender, Rettender…), wenn es um Armutsbekämpfung, Invalidenrenten oder Flüchtlinge geht? Weshalb ihr Hauen und Stechen gegen die SRG, die immerhin auch eine eidgenössische Klammerfunktion ausübt?
Vierte Strophe
Fährst im wilden Sturm daher,
Bist du selbst uns Hort und Wehr,
Du, allmächtig Waltender, Rettender!
In Gewitternacht und Grauen
Lasst uns kindlich ihm vertrauen!
Ja, die fromme Seele ahnt…
Muss Patriotismus laut sein? Muss er sich ununterbrochen manifestieren? Ist derjenige der bessere Patriot, der seine Vaterlandsliebe plakativ zur Schau stellt? Eher nicht. Eher verengt der Zwang, sich mittels Fahnen, Liedern, Kleidern dauernd mit „der Heimat“ zu identifizieren, den Blick auf die reale Welt.
Hugo Lötschers Mahnung
2007 veröffentlichte Hugo Loetscher im Hamburger Wochenblatt "Die Zeit" einen Essay über die Schweizer und ihre Identität. Seine Quintessenz: „Wir müssen uns hüten vor einer totalen Identifikation. Im schlimmsten Fall liefert sie die Rechtfertigung für Krieg – die totale Identifikation trägt Uniform. Identität, nicht als Sicherheitsgurt, sondern als Orientierungshilfe und Bezugspunkt. Wenn Identifikation nicht total identisch ist, gibt es einen Rest, und dieser Rest ist der Boden für das Noch-nicht-Realisierte, eine Herausforderung für die Jugend und damit für die Zukunft, eine Chance für die Freiheit.“