Journalisten werden gelegentlich als „Sekundenzeiger der Weltgeschichte“ definiert. Sie sind keine Historiker, eher Protokollanten. Trotzdem richten sie gelegentlich mit der grossen Kelle an, wie jener Reporter der „Washington Post“, der nach der amerikanischen Kommandoaktion in Pakistan ein Phantombild jenes Elitesoldaten zeichnete, der in der Nacht auf den 2. Mai Osama bin Laden in dessen Refugium in Abbottabad mit zwei Schüssen getötet hat: „Er ist irgendwo da draussen, eine Instant-Ikone in den Annalen amerikanischer Konflikte, der ultimative Grosswildjäger. Er ist aber auch ein Rätsel, seine Identität noch geheim, zumindest vorläufig, vielleicht auch für immer. Er ist der unbekannte Schütze. Der namenlose, gesichtslose Mann mit dem Finger am Abzug, der dem berüchtigsten Terroristen der Welt eine Kugel in den Kopf verpasst hat.“
Oder der, wie man heute weiss, kaltblütig einen Unbewaffneten erschossen hat. Osama bin Laden hätte ja, heisst es wenig überzeugend aus Washington DC, irgendwo eine versteckte Waffe oder einen Bombengürtel tragen und durch dessen Explosion amerikanische Leben gefährden können. Ein Mitarbeiter im Kongress, der über die Spielregeln des Einsatzes von SEAL Team Six informiert worden ist, meint, der saudische Terroristenführer hätte seinen Angreifern nackt gegenüber treten müssen, damit sie ihm erlaubt hätten, sich zu ergeben.“ Noch aber beharrt das Weisse Haus auf seiner Version, Bin Laden habe sich einer Festnahme widersetzt. „Widerstand erfordert keine Schusswaffe“, sagte dazu Pressesprecher Jim Carney.
Ein früherer Navy SEAL bezweifelt, dass es den Schützen stark beschäftigt, einen Wehrlosen erschossen zu haben. Die Elitesoldaten der Marine, meint er, würden „positiv denken“, sie bekämen Probleme, wenn sie nicht herausgefordert würden, seien eher schlecht im Ferienmachen und Entspannen, dafür stets konzentriert auf den nächsten Einsatz: „Die Kerle können an einem Tag am andern Ende Welt töten und dann 24 Stunden später zu Hause das Gras mähen.“ SEAL ist im Übrigen ein Akronym aus Sea, Air, Land (Meer, Luft, Boden) und heisst auf Englisch passenderweise auch Seehund. SEALs sind menschliche Allzweckwaffen, sie kämpfen überall, egal ob in der Wüste, in Schnee und Eis, im Dschungel oder in der Grossstadt, als Nachfahren der Kampfschwimmer dcs 2. Weltkriegs jedoch am liebsten unter Wasser.
Ausgebildet für "chirurgische Eingriffe"
Zu Hause, das ist für SEAL Team Six eine kleine Militärbasis in Dam Neck (Virginia), ausserhalb der Küstensrtadt Virginia Beach. Nachdem 1980 in der iranischen Wüste ein Versuch der US-Armee kläglich gescheitert war, die Geiseln in der amerikanischen Botschaft in Teheran zu befreien, wurde die Naval Special Development Group (DevGru) gegründet. Sie wurde SEAL Team Six getauft, um den sowjetischen Gegner während des Kalten Krieges über den tatsächlichen Personalbestand der Truppe im Dunkeln zu lassen. Heute ist die Einheit, die neun Kampfgruppen und insgesamt 2300 Mann umfasst, nicht mehr der Marine, sondern der Joint Special Operations Command (JSOC) in Fort Bragg (North Carolina) unterstellt. Unter dem Kommando des JSOC operieren heute sämtliche Spezialeinheit der US-Armee: die Delta Force des Heeres, SEAL Team Six der Marine, die Army Rangers sowie das 160. Fliegerregiment für Sondereinsätze der Luftwaffe, die „Night Stalkers“.
Laut General Hugh Shelton, einem früheren US-Generalstabschef und Kommandanten des JSOC, sind die Spezialeinheiten „Amerikas Ass im Ärmel“, ausgebildet für „chirurgische Eingriffe“ in jeder möglichen Umgebung irgendwo auf der Welt: „Wenn du jemanden brauchst, der aus 30 Kilometern Entfernung mit dem Fallschirm abspringen, das Kamin eines Schlosses ‚runterkommen und das Gebäude von innen in die Luft sprengen kann – das sind die Kerle, an die du dich am besten wendest“, wird Shelton im linksliberalen Magazin „The Nation“ zitiert. Amerikas Elitensoldaten, so der General, seien stille Profis: „Sie tun es und sie können es gut, aber sie prahlen nicht damit.“
Wie andere Elitesoldaten durchlaufen Navy SEALs eine äusserst harte Ausbildung, die nicht nur auf physische Fitness, sondern auch auf psychische Belastbarkeit und Stabilität höchsten Wert legt. Von rund 200 Soldaten, die nach einer Grundausbildung jeweils zur 24-wöchigen Weiterbildung in „Basic Underwater Demolition“ (BUD) zugelassen werden, bleiben am Ende lediglich 30 bis 35 Kandidaten übrig. Höhepunkt der Ausbildung auf der Marinebasis Coronado vor San Diego (Kalifornien) ist „Hell Week“, eine sechstätige Tortur, während der den angehenden SEALs, egal ob bei Tag oder bei Nacht, kaum eine Minute Ruhe gegönnt wird und ihre Ausbilder sie ständig schikanieren. Vor allem sollen sie während der Woche lernen, sich blind auf ihre Kameraden zu verlassen. „Hell Week“, so ein Ausbilder, „simuliert den Ernsteinsatz.“ Wem das Ganze zu stressig wird, der kann sich durch dreimaliges Läuten einer Glocke von der Truppe verabschieden – ohne Chance auf Rückkehr. Nicht umsonst lautet das inoffizielle Motto der Einheit: „Der einzige leichte Tag war gestern.“ Ein anderer Slogan der SEALs: „Schmerzen sind nichts anderes als Schwächen, die den Körper verlassen.“
Bin Laden töten ist wie ein Oscar gewinnen
Die Navy SEALs haben sich in ihrer Geschichte aber nicht immer nur mit Ruhm bekleckert. Team Six wurde in den 90er-Jahren vorübergehend aufgelöst, nachdem Unregelmässigkeiten bei der Beschaffung von Ausrüstung und der Verwendung von Geldmitteln bekannt geworden waren. Der Teamgründer wurde laut Wikipedia damals sogar wegen Bestechlichkeit, Veruntreuung und Falschaussage zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Und schon kurz nach der Gründung waren Misserfolge nicht ausgeblieben: 1983 ertranken vier SEALs während der Invasion der Insel Granada. 1985 misslang die Befreiung eines als Gesiel gehaltenen Stationschefs der CIA in Beirut. 1987 platze ein Skandal, weil einzelne Soldaten Tauchausrüstungen gestohlen hatten. In den 90er-Jahren blieben die SEALs weitgehend inkativ, nachdem in Somalias Hauptstadt Mogadiscio nach dem Abschuss eines Helikopters (die Episode wurde in „Black Hawk Down“ verfilmt) mehr als ein Dutzend Elitesoldaten der Armee ums Leben gekommen waren und sich das Weisse Haus unter Bill Clinton in der Folge scheute, sich auf weitere Kommando-Operationen einzulassen. Erst nach 9/11 kamen SEALs im Irak und in Afghanistan erneut verdeckt zum Einsatz.
Der letzte Einsatz von SEAL Team Six vor der Operation „Geronimo“ in Abottabad war ein Erfolg: Am 12. April 2009 töteten die Elitesoldaten, die nachts per Fallschirm aus einer C-17 in den Indischen Ozean abgesprungen waren, vor dem Horn von Afrika drei von vier somalischen Piraten, die den Frachter „Maersk Alabama“ gekapert und dessen Kapitän als Geisel genommen hatten. Die tödlichen Kopfschüsse fielen aus 25 Meter Entfernung vom schwankenden Deck der USS Bainbridge. „Wenn es darum geht, einen Scharfschützen auf das Deck eines Flugzeugträgers abzusetzen und sicherzustellen, dass der erste Schuss trifft, an wen wendest du dich?“, fragt General Hugh Shelton rhetorisch. Natürlich an die Navy SEALs: „Sie sind tödlich genau.“
Indes sucht der Bürgermeister von Virginia City der „Washington Post“ zufolge nach Mitteln und Wegen, um die Söhne seiner Stadt zu ehren, die in Pakistan so schlagzeilenträchtig operiert haben. Doch Will Sessoms hat ein Problem: Er hat keine Ahnung, wer die einzelnen Helden sind und wie er sie finden könnte. Zwar dürfte es den Männern von SEAL Team Six nicht an Ehrungen und Auszeichnungen mangeln, doch das werden sie intern und unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien erfahren. „Obama bin Laden zu töteten ist für den Schützen, als würde er in einem Atemzug in der Super Bowl spielen und einen Oscar gewinnen“, sagt ein früherer Elitesoldat: „Er will dafür Anerkennung. Aber nur von seinen Kollegen.“
Bleibt auf jeden Fall das 1985 gegründete National Navy UDT-SEAL Museum in North Hutchinson Island (Florida), die „Geburtsstätte der Navy Froschmänner“. Dort wird Operation „Geronimo“ mit Sicherheit einen Ehrenplatz finden. Zwar erwähnt die Website des Museums den Einsatz in Pakistan noch nicht. Wer sich aber mit Geduld wappnen will, der kaufe im Museumsladen zur Stärkung das „Intensity Nutrition Bundle“ – für 129, 95 Dollar ein Schnäppchen im Vergleich zu den Summen, die der Krieg gegen den Terror gekostet hat. Der Krieg dürfte bisher, einschliesslich der Kosten für die Einsätze im Irak und in Afghanistan sowie für die erhöhten Sicherheitsmassnahmen und deren Administratoren, Ökonomen zufolge zwischen fünf und sechs Billionen Dollar gekostet haben. Die indirekten Kosten für Amerikas Wirtschaft und Psyche sind darin nicht eingerechnet. Sie sind, wie die Namen der Navy SEALS in Abottabad, nach wie vor unbekannt.