Die Flüchtlingsströme aus der islamischen Welt haben die Türkei plötzlich ins Zentrum der europäischen Politik gerückt. Der Grund: Nur die Türkei kann den europäischen Staaten Erleichterung bringen. Der Flüchtlingsansturm bedroht nicht die Existenz der Europäer, sondern vielmehr den Zusammenhalt des politischen europäischen Gebildes. Dies deshalb, weil sich Europa nicht einigen kann, welcher Staat wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Europa als politisches Gebilde ist offenbar eher bereit, seine bisher aufgestellten Regeln des Zusammenlebens wieder zu brechen, als eine einvernehmliche Lösung über die Aufnahme der Flüchtlinge zu finden.
Doch es geht nicht nur um die Aufnahme der jetzt auf Asyl wartenden Flüchtlinge, sondern auch um Millionen weitere, die noch kommen könnten. Viele warten auf eine Gelegenheit, nach Europa zu gelangen: Syrer, Iraker, Afghanen, Iraner, Eritreer und Menschen aus andern afrikanischen Ländern. Auch viele Flüchtlinge, die in den jetzigen Zufluchtsländern - in der Türkei, in Jordanien und Libanon - ein klägliches Leben fristen, könnten bald nach Europa aufbrechen.
Die Türkei in der Rolle des Wächters
Etwa jeder zweite Flüchtling kommt aus Syrien. Eine offene Balkanroute führt dazu, dass noch mehr Flüchtlinge von Ländern weiter im Osten und aus Afrika via Türkei nach Europa kommen. Und umgekehrt: Wird die Balkanroute hermetisch geschlossen, werden die Schlepper und Flüchtlinge wieder die gefährliche Mittelmeer-Route wählen. Doch auf diesem Weg werden wohl weniger Flüchtlinge nach Norden strömen können als über die Balkanroute.
Ob der Flüchtlingsstrom gebremst und unter Kontrolle gebracht werden kann, hängt von der Türkei ab. Sie hat sich bereit erklärt, jene Migranten, die künftig nach Griechenland gelangen werden, wiederaufzunehmen. Allerdings nicht jene, die sich schon in Griechenland befinden. Dafür lässt sich die Türkei bezahlen. Die Rücknahme würde unter bestimmten Bedingungen erfolgen.
- Für jeden zurückgenommenen Migranten wird "Europa" einen anderen Migranten aus der Türkei aufnehmen. Er oder sie werden auf regulärem, legalem Weg nach "Europa" einreisen. So sieht es der "Eins-zu-Eins-Plan" vor.
- Die Türkei fordert zusätzlich drei Milliarden Dollar, um die Flüchtlinge zu beherbergen. Drei Milliarden waren ihr schon früher zugesprochen worden.
- Die praktisch eingeschlafenen Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU sollen belebt und beschleunigt werden. Die Türkei möchte auch, dass Türken ohne Visa in den Schengenraum reisen können.
Die Türkei triumphiert
Die Verhandlungen der EU mit der Türkei sind zurzeit unterbrochen. Sie sollen am 18. März wieder aufgenommen und dann beendet werden. Wird Europa diesem Plan zustimmen? Deutschland setzt sich dafür ein. Doch einige EU-Staaten haben es bisher abgelehnt, muslimische Migranten bei sich aufzunehmen. Andere wollen selbst bestimmen, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen. Dazu gehört Frankreich. Wieder andere wollen sich nicht einem EU-Diktat beugen und könnten die Quote ablehnen, die ihnen ein „europäischer Schlüssel“ zuteilt. Man wird sich wohl schwerlich in den nächsten acht Tagen einigen können.
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ist triumphierend in die Türkei zurückgekehrt. Er war es, der den jetzt vorliegenden Vorschlag den Europäern vorgelegt hatte. Er erklärte zuhause, er habe in Europa wie ein Geschäftsmann aus Kayseri gehandelt. Die Kayseri-Händler im Inneren Anatoliens sind besonders bekannt für ihre Fähigkeit, Geschäfte zäh auszuhandeln. Davutoglu sagte, die Türkei werde die zurückgenommenen Syrer bei sich aufnehmen. Alle anderen würden in ihre Heimatländer zurückgebracht werden, und zwar "unter der Aufsicht und nach den Regeln des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR)".
Verärgert über den Visa-Zwang
Seit langer Zeit sind die Türken verärgert, dass sie gezwungen sind, für Reisen in den Schengenraum ein Visum zu beantragen. Sie argumentieren, ihr Land sei heute so weit entwickelt, dass es keine Massenauswanderung von arbeitsuchenden Türken mehr geben werde. Die Reisefreiheit ohne Visa sei notwendig für die türkischen Geschäftsreisenden, die mannigfaltige Beziehungen zu den europäischen Staaten pflegten – ebenso für Studierende und Ferienreisende.
Doch die Türkei führt im Innern des Landes und an den Grenzen wieder Krieg gegen die Kurden. Kriege lösen Flüchtlingsströme aus. Die kurdischen Flüchtlinge aus der Türkei besitzen türkische Pässe.
Das inner-türkische Politprogramm
Sofort nach seiner Rückkehr in die Türkei trat Davutoglu mit dem parlamentarischen Sprecher seiner AK-Mehrheitspartei zusammen. Mit ihm besprach er den neuen Kurs seiner Partei im türkischen Parlament.
Präsident Erdoğan, der tonangebende Vorsitzende der AK-Partei, fordert, dass die Partei drei heisse Eisen sofort anpacke. Dazu gehört der Ausschluss der 59 legal gewählten Abgeordneten der HDP-Kurdenpartei von Selahattin Demirtaş aus dem Parlament. Ein solcher Ausschluss müsste durch einen Mehrheitsbeschuss der Parlamentarier geschehen. Vorwand wäre die angebliche heimliche Zusammenarbeit der HDP mit der PKK, die in der Türkei verboten ist und bekämpft wird. Erdoğan fordert das Parlament auch auf, die Frage zu klären, ob und wie der Krieg gegen die PKK weitergeführt werden soll – oder ob auf einen Friedensschluss hingearbeitet werden soll.
Exekutiver Präsident
Weiter wünscht Erdoğan, dass das Thema der Verfassungsänderung angepackt werde. Er will die Verfassung so ändern, dass sie ihm erlaubt, als "exekutiver Präsident" die Türkei zu regieren und ihre Regierung zu leiten. Dazu müssten zuerst Abänderungsvorschläge formuliert und im Parlament diskutiert werden. Anschliessend müsste das Volk darüber entscheiden.
Unabhängige oder gehorsame Richter?
Ein weiterer Programmpunkt, der den Wünschen Erdoğans entspricht, scheint schon in Angriff genommen zu sein. Dabei handelt es sich um ein Gesetz, das das Verfassungsgericht einer wichtigen Kompetenz beraubt – oder diese Kompetenz zumindest schmälert. Bisher war das Verfassungsgericht befugt, gegen Beschlüsse von niedrigeren Gerichtshöfen einzuschreiten, wenn das Verfassungsgericht der Ansicht war, diese Beschlüsse widersprächen den Grundrechten der Angeklagten. Die Pro-Erdoğan Zeitung "Safak" hat schon triumphierend berichtet, eine derartige Gesetzesvorlage befände sich schon in Vorbereitung.
Zurzeit liegt Erdoğan in bitterem Streit mit dem Verfassungsgericht. Dieses hatte die vorläufige Freilassung von zwei bekannten Journalisten der oppositionellen Zeitung "Cumhuriet" angeordnet. Die beiden waren von einem lokalen Gericht in Istanbul am 26. November 2015 in Untersuchungshaft genommen worden. Sie sassen 92 Tage im Gefängnis, ohne verurteilt zu sein. Erdoğan persönlich hatte sie angezeigt. Die Anklage gegen sie lautet, sie hätten gegen den türkischen Staat "spioniert" und dessen Sicherheit in Gefahr gebracht, als sie Artikel und Fotos veröffentlichten, aus denen hervorging, dass der türkische Geheimdienst Waffen an syrische Widerstandsgruppen geliefert habe. Wobei die Vermutung besteht, dass die Waffen für den IS bestimmt gewesen sein könnten. Die Waffen waren nach der Beschreibung und den Bildern unter medizinischem Material in Lastwagen versteckt.
Erdoğan gegen das Verfassungsgericht
Die Anordnung des Verfassungsgerichtes vom vergangenen Februar war zuerst von sämtlichen türkischen Zeitungen mit Erleichterung und Zustimmung aufgenommen worden. Doch dies änderte sich schlagartig, als Erdoğan persönlich erklärte, er "nehme das Urteil des Verfassungsgerichtes nicht an“.
Es handle sich nicht, wie die Verfassungsrichter behaupteten, um eine Frage der Meinungsfreiheit, sondern es gehe um einen Spionageprozess. Die zahlreichen Pro-AK-Partei Blätter der Türkei, griffen dies sofort auf. Sie erschienen am folgenden Tag mit Schlagzeilen, in denen die beiden Journalisten als "Spione" und des Vaterlandverrats beschuldigt wurden. Die propagandistischen Angriffe auf das Verfassungsgericht haben seither nicht aufgehört. Das Verfassungsgericht hat einen 33-seitigen Bericht veröffentlicht, in dem es sein Urteil begründete. Doch Erdoğan erklärte, er habe keine Zeit, den Bericht zu lesen.
Kesseltreiben gegen unabhängige Medien
Was die Meinungsfreiheit angeht, so findet gegenwärtig ein Kesseltreiben gegen die unabhängigen Zeitungen statt, die es sich erlauben, eine kritische Haltung gegenüber Erdoğan und seiner Politik einzunehmen. Die grösste Oppositionszeitung "Zaman" wurde enteignet und einer Pro-Erdoğan-Führung unterstellt. Die redaktionelle Linie der Zeitung wurde von einem Tag auf den andern geändert. Aus einer kritischen Zeitung wurde ein Propagandablatt für die Regierung.
Eines der türkischen Gerichte gab sich dafür her, die Absetzung der bisherigen Leitung und die Einsetzung einer neuen Leitungsequipe anzuordnen. Als Vorwand diente die - unbewiesene - Behauptung, die Zeitung diene einer Verschwörung gegen die Türkei durch die Gülen-Bewegung. Diese, so behaupten Erdoğan und seine Partei, versuche, in der Türkei einen „Parallelstaat“ zu errichten.
Zwei-Klassen-Gesellschaft
All dies - Kurdenfragen, Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte - hat mit "Europa" insofern zu tun, als die Türkei mit dem vorgeschlagenen Plan von "Eins-zu-Eins" ein enges Verhältnis mit Europa einginge - während sie sich gleichzeitig von den Grundbedingungen, die eigentlich zu den Voraussetzungen der Zugehörigkeit zu Europa gehören, noch erheblich weiter zu entfernen droht, als es schon bisher der Fall gewesen war.
Der Plan würde, wenn er zur Realisierung kommt, ein Europa erster und zweiter Klasse schaffen. Im Europa zweiter Klasse findet man den Luxus der Hochhaltung von Menschenrechten nicht - oder zumindest stark reduziert. Dafür wird dort eine Menschenmasse zusammengedrängt und parkiert, wofür Europa bezahlt oder mitbezahlt. Aus der zweiten in die erste Klasse kann man nur durch einen Ruf aus Europa befördert werden.
Wenn die Türkei, als Wächter der zweiten Klasse, damit droht, dass sie ihrerseits die Ausreise-Tore öffnen könnte, steht Europa vor der Entscheidung, entweder zu tun, was Ankara wünscht - im besten Fall noch mehr zu bezahlen -, oder aber erneut unter den Druck des wieder anschwellenden Flüchtlingsstroms zu gelangen.