Pakistan erlebt eine seiner schwersten Krisen seit seiner Gründung. Die politischen Parteien sind hoffnungslos zerstritten, die Armee hat Prestige und Kohäsion eingebüsst, und die Justiz wird an der Nase herumgeführt. Konzertmeister in dieser Kakophonie: Imran Khan.
Viermal hatte Imran Khan unter dem einen oder anderen Vorwand eine Vorladung des Obersten Gerichts der Provinz Panjab missachtet. Als er sich am letzten Samstag in seiner Heimatstadt Lahore endlich auf den Weg machte, war ihm der Zugang zum Gerichtsgebäude versperrt.
Gute Umfragen
Aber es war nicht die Polizei, die ihn daran hinderte. Zweihundert seiner militanten Anhänger hatten das Gebäude zuvor stürmen wollen und waren unter Feuereinsatz der Polizei zurückgedrängt worden. Beide lieferten sich eine Strassenschlacht, die am Ende über sechzig Verletzte – darunter eine Reihe Polizeibeamte – forderte.
Khans Konvoi drehte ab und fuhr in seine Residenz zurück, die ebenfalls von seinen Getreuen bewacht wurde. Er hatte seine Pflicht getan und Goodwill gezeigt – und sich dennoch nicht der Justiz ausgeliefert, die über 85 Polizeiklagen gegen Khan zu befinden hat. Es war, als hätte er das Ganze genau so orchestriert.
Seit bald einem Jahr treibt Imran Khan ein Katz- und Mausspiel, und dies nicht nur mit der Justiz, sondern auch mit der Regierung und – das hat es in Pakistan noch nie gegeben – mit den Militärs. Er tut es mit zahlreichen Umfragen im Rücken, die ihm im Fall einer fairen Wahl über sechzig Prozent der Stimmen versprechen. Vor elf Monaten war Khan durch ein Misstrauensvotum des Parlaments abgesetzt worden. Schon damals hatte er Missbrauchsvorwürfe in den Wind geschlagen und ein Armee-Komplott gewittert.
Drakonische Anti-Terror-Gesetze
Fast ein Jahr später ist die Armee noch immer nicht eingeschritten, obwohl Khan nicht mehr auf den offiziellen Schutz seines Amtes zählen kann. Es ist wohl nicht Khans möglicher Wahlsieg, der die Armee davon abhält. Sie weiss: Ihre Popularität im Volk verlangt, dass sie ihre Macht diskret ausübt, wenn es darum geht, die Politiker in Schach zu halten. Die Erinnerung an 2007 ist noch wach, als der Präsidentengeneral Musharraf mit Militärgewalt gegen islamistische Hitzköpfe vorgegangen war; es kostete ihn, wenn nicht den Kopf, so am Ende doch den Lorbeerkragen.
Schon damals hatte es in den mittleren Rängen der Offizierselite geknarrt, sind doch viele Offiziere Anhänger der radikal-sunnitischen Tablighi-Sekte. Diesmal ist es Imran Khan, der bei ihnen auf Sympathien zählen kann. Der Einsatz der geballten Feuerkraft gegen einen populären Politiker – und einen Macho-Pathanen – könnte dann interne Risse offen aufbrechen lassen. Khans Anhänger sind inzwischen so militant geworden, dass es mit einer raschen Verhaftungsaktion nicht getan wäre; das zeigen die Strassenkämpfe der letzten Monate.
Die Armee überliess es bisher der Zivilregierung, die vorderste Front zu besetzen. Deren Vorgehen demonstriert noch deutlicher, dass sie der Alles-oder-Nichts-Taktik Khans ratlos gegenübersteht. Ratlos bedeutet nicht tatenlos – im Gegenteil. Der brutale Einsatz der Polizei zeigt, dass Angst und Schrecken die einzigen Waffen der Regierung von Shehbaz Sharif sind. Neuerdings bedient sie sich zudem der drakonischen Anti-Terrorgesetze, um Khans Anhänger einzuschüchtern.
Märtyrer der Demokratie
Der Erfolg blieb bisher aus. Im Gegenteil, die scharfe Munition nützt Khan mehr als der Regierung. Er verurteilt das Vorgehen von Polizei und paramilitärischen Einheiten als Kriegserklärung an die Demokratie – und wird gehört. Die Meinungsumfragen geben ihm recht. Je länger der Showdown anhält, desto stärker festigt sich das Bild Khans als Märtyrer der Demokratie.
Er ist auf dieses Bild angewiesen. Denn Pakistans geplagte Bürger haben genügend Möchtegern-Autokraten erlebt, für die Demokratie nur der Steigbügel zur Macht war. Auch er hatte sich geweigert, das Misstrauensvotum des Parlaments zu akzeptieren und zog politisches Chaos vor, um seine Macht zu retten. Seine schonungslose Analyse der Wirtschaftskrise Pakistans ist zwar richtig, aber er war es, der mit seiner unnötigen Streitsucht – gegenüber den USA, arabischen «Bruder»-Staaten und selbst gegen China – dem Land den Weg zu einer internationalen Hilfskoordination verbaut hat.
Kredit des IWF
Es gibt daher (sogar in der Regierungskoalition) Stimmen, die empfehlen, Khan mit Neuwahlen wieder an die Macht kommen zu lassen. Dort würde er sich dann mit seinem Starrsinn die Zähne ausbeissen. Dies wäre allerdings ein Bärendienst für die Wirtschaft des Landes, die schon lange darauf drängt, endlich den weitgehend ausgehandelten Stützungskredit des Internationalen Währungsfonds unter Dach und Fach zu bringen.
Allerdings ist die gegenwärtige Regierung – eine Koalition der beiden alten Gegner Muslim-Liga (Sharif) und Volkspartei (PPP) – so sehr mit der Herausforderung durch Khan beschäftigt, dass sie sich gar nicht um die ersten finanzpolitischen Schritte kümmern kann, die der IWF-Kredit vorsieht.
Dem früheren Londoner Playboy Khan ist es zudem gelungen, sich als Verfechter der «Sharia» zu profilieren. Schon als Premierminister hatte er sich zum «Versteher» radikaler islamistischer Positionen gemacht, etwa bei den Frauenrechten und dem Schutz religiöser Minderheiten. Nun versucht er daraus Kapital zu schlagen und die Regierungsparteien als «Islam-Gegner» in die Ecke zu manövrieren.
Attentate und Gerüchte
Dies ist auch sicherheitspolitisch nicht unbedenklich, in einem Augenblick, in dem der radikale Untergrund vermehrt wieder im benachbarten Taliban-Staat Unterschlupf findet. Die afghanischen Islambrüder scheint es wenig zu kümmern, dass der pakistanische Staat ihnen während Jahrzehnten Schutz zukommen liess (sie allerdings auch nach Bedarf für seine Zwecke manipulierte).
Für derart verworrene Situationen, so munkeln zynische pakistanische Beobachter, habe Pakistans «Deep State» in der Vergangenheit kaltblütig seine Option «Attentat» gewählt. Man erinnert sich etwa an Benazir Bhutto, die Ende Dezember 2007 einem unbekannten Attentäter zum Opfer fiel. Zwei Monate zuvor, am Tag nach einem ersten Attentatsversuch in Karachi, hatte sie den internationalen Medien in einem Anflug von Galgenhumor erklärt, sie sei dabei, unter den drei Attentatsplänen gegen sich jenen Rivalen herauszufinden, dem der Mordversuch vom Vorabend misslungen sei. Bei einem dieser angeblichen Komplotte führte die Spur zum damaligen Panjab-Chefminister Shebhaz Sharif – dem heutigen Premierminister (und Koalitionspartner von Bhuttos PPP).
Offenbar sorgt sich auch Imran Khan um seine Haut. Er wisse, dass man ihm nach dem Leben trachte, sagt er immer wieder, als bringe die Äusserung eines Verdachts diesen magisch zum Verschwinden. Das hatte bereits bei «BB» nicht funktioniert. Daher verbindet er die düstere Prognose mit der Weigerung, sich den Behörden zu stellen. Auch hier könnte Khan im Familienarchiv der Bhuttos fündig werden: Benazirs Vater Zulfikar Bhutto wurde 1973 verhaftet und nach einem Schauprozess sechs Jahre später erschossen.
Doch selbst wenn es keine Mordpläne gibt, zeigen nur schon die Gerüchte, dass das politische System Pakistans feststeckt. Man sehnt sich beinahe nach den schlechten alten Zeiten, als die Armee einen neuen Joker ins Spiel bringen konnte, wenn ihre alten Trumpfkarten wieder einmal versagt hatten.
Wer weiss – vielleicht sehnen sich tatsächlich viele Pakistaner nach einer Machtübernahme der Armee. Sie könnte angesichts der immer katastrophaleren Wirtschaftslage tatsächlich mit einer momentanen Sympathiewelle rechnen. Aber aus Erfahrung weiss sie auch, dass Bajonette keine gemütlichen Sitzgelegenheiten sind.