Diese Kräfte kommen alle zum Zuge, weil der Staat keine funktionierende politische Führung mehr aufweist. Parlament und Regierung leben in einer Blase von weitgehend durch Korruption erworbenem und erhaltenem Wohlstand und Reichtum. Dies hindert sie daran, auf das reale Land zuzugreifen, weil sie es gar nicht mehr wahrnehmen.
Die Armee - ein politischer Anachronismus
Die Armee hat das Land in den letzten Jahrzehnten schlecht und recht zusammengehalten. Doch sie scheint in anachronistische Politvorstellungen eingebunden. Indien gilt ihr immer noch als die Hauptgefahr, gegen die sie antreten müsse und dient ununterbrochen als die eigentliche Existenzberechtigung ihrer schwer privilegierten Führungskräfte.
Diese Grundvorstellung verbietet den Offizieren, jene Kräfte in ihrer ganzen Tragweite zu erkennen und gegen sie einzuschreiten, die ihr Land wie eine Säure durchdringen und auflösen.
Das Beispiel Karachi
In der Millionenstadt Karachi finden zur Zeit Bandenkämpfe statt, die ein Ausmass erreicht haben, das es seit langem nicht mehr gegeben hat. Seit Juli dieses Jahres sollen ihnen rund 10 Menschen täglich zum Opfer fallen. Aus dem zunächst bilateralen Banden- und Strassenkampf zwischen den Sindi Einheimischen und den ursprünglich aus Indien zugewanderten und Urdu sprechenden Einwanderern aus Indien des MQM (Muttahida Quami Movement - Vereinigte Nationale Bewegung) ist heute ein trilaterales Ringen geworden.
Dies weil in den letzten Jahrzehnten grosse Mengen von Paschtu und Belutch sprechenden Flüchtlingen aus dem Norden, Afghanistan und Nordpakistan, in der Grossstadt siedelten und ihre eigenen Quartiere durch ihre eigenen bewaffneten Banden abzusichern und zu verteidigen lernten.
Die ethnische Dreiteilung wird durchquert und weiter zerstückelt durch rein kriminelle Banden, die sich mit Opium-Schmuggel, mit Schmuggel schlechthin und mit dem Transport von legalen und illegalen Waren befassen sowie mit der Ausnützung der Wohnungsnot und des Bauwesens der Hüttenstädte und der Luxusquartiere.
Die Terrormacht des Islamismus
Dazu wirkt heute als weitere ebenfalls gewalttätige Kraft jene der ebenfalls bewaffneten und ebenfalls untereinander rivalisierenden Islamisten, die auf Diskreditierung des Staates und einer jeden staatlichen, tribalen oder bandenmässigen Ordnung ausgehen, die sich weigert, ihre Autorität anzuerkennen.
Instrument der Diskreditierung ist der Massenmord an Unschuldigen, weil dieser sehr sichtbar dokumentiert, dass weder der Staat noch die erwähnten unterschiedlichen und rivalisierenden Ersatz-Ordnungsstrukturen, welche "ihre" Quartiere beherrschen, in der Lage sind, ihre Klienten und Untergeordneten wirksam vor Mordanschlägen zu bewahren.
Todesgefahr oder Unterordnung
Dies soll die Masse der einfachen Leute vor die Wahl stellen, entweder ihren bisherigen Beschützern die Treue zu halten und damit die Gefahr hinzunehmen, von Bomben zerfetzt zu werden, oder ihre Loyalitäten zu ändern und sich den Islamisten und ihrem Machtstreben unterzuordnen.
Damit diese Methode funktioniert, müssen die Anschläge beständig andauern oder besser sich stets weiter steigern, so dass die grosse Masse, um deren Loyalität oder Unterordnung gerungen wird, unter dem Eindruck steht, auf lange oder auf mittlere Frist könne allein die zweite Alternative sie vor dem Tode bewahren.
Opportunistische Politiker
Die Politiker aus Islamabad und aus dem zuständigen Landesparlament von Sind sind an alledem insofern beteiligt, als sie diese oder jene der bewaffneten Gruppierungen, oder Kombinationen davon, protegieren und dafür Protektionsgelder und Wählerstimmen erhalten, oft über Mittelsmänner, um sich selbst die Hände nicht schmutzig zu machen.
Diese politische Protektion wird ihrerseits von der Polizei und anderen Ordnungskräften als Entschuldigung dafür genommen, dass sie nur am Rande eingreifen. Sie erklären, sie könnten nicht mehr tun, da sie ja ihrerseits über Gehälter und die staatliche Hierarchie von den Politikern abhingen.
Die Einbeziehung der ländlichen Welt
Karachi hatte sich lange Zeit dadurch vom ländlichen Pakistan unterschieden, dass auf dem Lande die Gewalt sehr viel seltener war. Dort gab es keine ethnischen Gräben zwischen eng zusammenlebenden entwurzelten Bevölkerungsgruppen. Die wirtschaftlichen Gräben waren ihrerseits so tief und unverrückbar, dass sie kaum hinterfragt wurden: hier Grossgrundbesitzer dort Pächter oder landloser Tagelöhner.
Die beiden Sozialpartner waren insofern auf ein gewisses Zusammenwirken angewiesen, als der Grossgrundbesitzer "seinen" Bauern ein Existenzminimum überlassen musste, wenn er aus ihrer Arbeit Gewinn ziehen wollte. Manche von ihnen wussten sogar, dass sie mehr aus ihren Ländereien, Pächtern und Tagelöhnern herausholen konnten, wenn sie dafür sorgten, dass diese unter menschlichen Arbeitsbedingungen und mit verbesserten Arbeitsmethoden den Boden bestellten.
Überschwemmung und Islamisierung
Doch zwei Entwicklungen haben das immer labile Gleichgewicht auf dem Lande kompromittiert. Zum ersten die katastrophalen Überschwemmungen des vergangenen Jahres, die sich gegenwärtig mit dem neuen Monsun wiederholen, wenngleich nicht ganz so vernichtend wie jene des Vorjahrs. Sie haben grosse Bevölkerungsmengen der wenig bemittelten ländlichen Unterschichten ins Elend getrieben. Man rechnete letztes Jahr mit 10 Millionen Betroffenen. Viel von ihnen konnten bis heute nicht heimkehren oder, wenn heimgekehrt, nicht oder nur ungenügend ihre verwüsteten Äcker bestellen und Häuser wieder errichten. Nun kommen neue Überschwemmungen dazu.
Ausbreitung der islamistischen Welle
Zum zweiten breitet sich die islamistische Welle über das ganze Land aus. Die Zerstörung der bestehenden Lebensgrundlagen grosser Teile der ländlichen Bevölkerung kommt ihr zu Gute, weil die herkömmliche religiöse Tradition eines stark mystisch orientierten Islams "der Heiligen Männer" mit den traditionellen Lebensbedingungen auf dem Lande und in den Volksvierteln der Städte verbunden war und auf ihnen aufbaute.
Wo diese Lebensbedingungen zusammenbrechen, verliert der volkstümliche traditionelle Islam-Relevanz. Die Islamisten sind die natürlichen Feinde der Mystiker und des von ihnen entwickelten und gepflegten "Volksislams". So sehr, dass die "Schreine" beliebter mystischer Heiliger, die von Tausenden von Menschen besucht werden, ihren Extremisten und Aktivsten mehrfach als Bombenziele gedient haben.
Erben des "Volksislams"
Wenn die traditionellen Formen des Volksislams mit ihrem Einschlag von Heiligenverehrung an Bedeutung verlieren, können die Islamisten ihr Erbe antreten. Sie sorgen dann dafür, dass der mystisch gefärbte und oft künstlerisch in Lied und Tanz ausgeprägte, unpolitische Islam ersetzt wird durch die alles beherrschende Vorstellung einer als "islamisch" angesprochenen politischen Macht, die sich gefordert glaubt, gegen alle als "unislamisch" gesehenen Kräfte, einheimische im Osten und fremde aus dem Westen, ideologisch und auch mit den Waffen zu kämpfen.
Dabei wird "der Kampf" je länger er dauert und je mehr er sich auch gegen die landesfremden Soldaten aus dem europäischen und amerikanischen Westen mit ihrer überlegenen Todestechnologie richtet, immer mehr Selbstzweck. Der Islam immer mehr Vorwand und Mittel. Das Ziel ist zunehmend, ja immer mehr ausschliesslich, einzig die Macht.
Selbstmordanschläge als dominierendes Kampfmittel
Dass dem so ist, beweisen die "unislamischen", "sündigen" Methoden, die zur Anwendung kommen: in erster Linie die Selbstmord-Bombenanschläge. Sie sind unverzichtbar geworden, weil sie sehr wirksam sind und als Kampfmethode auch dort Erfolg versprechen, wo die Gegenseite über die westliche militärische Technologie verfügt, sei es die pakistanische Armee, sei es die amerikanische selbst mit ihren europäischen Hilfskräften.
Der politische Zeck dieser Selbstmordaktionen liegt auch ausserhalb von Karachi darin, dass mehr und mehr Menschen gezwungen werden, sich zu entscheiden zwischen permanenter Todesgefahr oder Unterwerfung unter die Islamisten.
"Die Amerikaner" als Stützen des Islamismus
Nicht nur die Angst vor den von ihnen organisierten Selbstmord-Bomben treibt die Pakistanische Bevölkerung in die Arme der Taleban. Sie verstehen es auch, die rasch um sich greifende Wut auf die Amerikaner auf ihre Mühlen zu lenken. Dieser Zorn entwickelte sich mit den amerikanischen Drohnen. Den pakistanischen Patrioten sind sie verhasst, weil sie Übergriffe gegen die pakistanische Souveränität darstellen und damit Verachtung des pakistanischen Staates durch die westliche Vormacht demonstrieren. Die Bevölkerung hasst sie auch als Mordinstrumente, die vorgeben, sich gegen islamistische Kämpfer zu richten, aber immerwieder Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern.
Die dichte Präsenz von amerikanischen Agenten, CIA wie auch "zivile Angestellte der CIA", die teilweise mit dem Drohneneinsatz der Amerikaner zusammenhängt, trägt ebenfalls zum Hass auf die Amerikaner bei. Besonders seitdem im Januar, Raymond Davis, ein "Angestellter der CIA", zwei offenbar unschuldige Pakistani in Lahore auf offener Strasse erschossen hatte und schlussendlich im März, nach langen, Aufsehen erregenden Diskussionen, Strassendemonstrationen und Gerichtsdramen dank dem Einsatz der Amerikaner zu seinen Gunsten straffrei davon kam.
Wut auf US-Raid gegen Bin Ladin
Die Wut auf die Amerikaner wuchs noch weiter, als diese Bin Laden in der pakistanischen Garnisonstadt Abbotabad fanden und erschossen und dadurch die pakistanische Armee und ihren Sicherheitsapparat lächerlich machten.
Die Islamisten können auf all dieses hinweisen und den einfachen Pakistani glaubhaft versichern, dass unter ihrer Herrschaft ein derartiger Ausverkauf Pakistans und des Islams nicht mehr stattfinden werde.
Ursprung und Ausbreitung der Selbstmordbombe
Die Selbstmordbombe ist in der islamischen Welt zuerst in Libanon eingesetzt worden, als 1982 sowohl israelische wie auch amerikanische und französische Truppen in Libanon standen. Sie ist später im Irak und dann in Afghanistan erprobt und verfeinert worden, stets im Kampf gegen den Fremden von aussen, den "Kolonialisten", wie er einst genannt wurde, und gegen dessen Waffentechnik, welche sich anderthalb Jahrhunderte lang (rund seit 1850) als unüberwindlich erwiesen hatte.
Dies ist eine Waffentechnik, die nun verspricht, überwunden zu werden, wesentlich mit Hilfe eines islamistisch verstandenen Islams, der in der Lage ist, die für die Selbstmordbomben notwendigen Todeskandidaten zu liefern.
Als die Afghanen - mit westlicher Hilfe - gegen die Sowjetarmee kämpften (1980-88), gab es in Afghanistan todesbereite Kämpfer im "Heiligen Krieg" aber noch keine Selbstmordanschläge. Das Ausspielen westlicher Militärmacht in der Islamischen Welt hat zur Entstehung und Fortentwicklung der Selbstmordanschläge geführt.
Islamistische Siegesgewissheit
Heute schnuppern die Träger dieser Methode ihren bevorstehenden Sieg gegen die Amerikaner und die Nato-Mächte in Afghanistan. Ihre Schüler und Imitatoren in Pakistan nehmen an, dass sie sich in naher Zukunft auch dort durchsetzen werden, sogar gegen die staatliche Armee ihres Landes.
Sie sind bereit, zu diesem Zweck die bestehenden sozialen und politischen Strukturen Pakistans zu zerstören, und sie reden sich ein, diese gewachsenen Strukturen in Zukunft durch einen von ihnen gelenkten "islamischen" Staat ersetzen zu können. Die Zeichen dafür, dass die Zerstörung gelingen könnte sind gut. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann, nach der Zerstörung, ein neuer funktionierender Staat zustande käme, ist jedoch minimal.