«Bon anniversaire» kann man da nur wünschen, zumal die Jubilarin bei bester Gesundheit ist und sich in ihren beiden Häusern – Bastille und Garnier – frisch und jugendlich gibt.
«Moderne depuis 1669» lautet das Motto, das Generaldirektor Stéphane Lissner für dieses Jubiläum lanciert hat. Eine wie keine andere, nennt er die «Opéra de Paris» nicht ohne Stolz. «Regime ändern sich», schreibt er, «Regierungen wechseln, einige Institutionen bleiben erhalten und die ‘Académie royale de Musique’, also die älteste ständige Oper der Welt, gibt es immer noch.» Zutiefst modern sei sie über die Jahrhunderte geblieben, so Lissner. Ihr Ziel: unterhalten, schöpferisch tätig sein und Künstler aus aller Welt einladen, um zu musizieren. Daneben – aber keineswegs nebenbei – besitzt die Pariser Oper mit der Caisse de retraite eine der ältesten Pensionskassen. Dies zeige, welch grosse Bedeutung Ludwig XIV. schon vor 350 Jahren dem Wohlergehen von Musikern, Tänzern und Theaterleuten beigemessen hat.
In der Direktion auch ein Schweizer
Zur Direktion der Pariser Oper gehört auch Philippe Jordan. Er sitzt in seinem Büro, hoch oben im achten Stock, und holt kurz Luft zwischen den Terminen dieses Tages, der mit der Aufführung von Mahlers dritter Sinfonie am Abend enden wird. Seit zehn Jahren ist der Zürcher nun musikalischer Leiter des Riesendampfers «Bastille» und des dazugehörigen Schmuckstücks «Opéra Garnier». Ein Jahr noch, dann wechselt er als musikalischer Leiter nach Wien an die Staatsoper. Das Jubiläumsjahr ist also für ihn auch ein Abschiedsjahr.
Spürt er aber jetzt hier in Paris Würde und Bürde der Jahrhunderte, frage ich Philippe Jordan. «Nein, eigentlich nicht», sagt er und denkt noch mal nach. Der Alltagsbetrieb nimmt ihn viel mehr in Anspruch. Die Pariser Oper steht in Konkurrenz zu den grossen anderen Häusern, der Met in New York, dem Royal Opera House in London, der Scala in Mailand, der Staatsoper in München … da kann man sich nicht auf dem Ruhm der Jahrhunderte ausruhen. «Aber man spürt schon die ‘Grande Nation’, die Revolution, die hier stattgefunden hat …» Es ist kein Ort, wie jeder andere. «Ja, und wenn man daran denkt, dass vor 350 Jahren Jean-Baptiste Lully hier auch schon Direktor war und man ein bisschen in dessen Nachfolge steht, dann kommt schon etwas Ehrfurcht auf …»
Jean Baptiste Lully war der Hofkomponist von König Ludwig XIV. und er sorgte dafür, dass sich neben der italienischen Oper, die damals gross in Mode war, auch eine französische Opernkultur entwickelte. Am 28. Juni 1669 unterzeichnete der König den Vertrag für eine «Académie royale de Musique», also gewissermassen der Vorfahr der Pariser Oper. Erster Direktor und zuständig für die musikalischen Belange war der Barock-Komponist Jean-Baptiste Lully während 15 Jahren. Ganz nach französischem Geschmack spielte das Ballett eine wesentliche Rolle. Kein Wunder, schliesslich präsentierte sich Ludwig XIV. höchstpersönlich als Tänzer auf der Bühne. Als er in einem Ballett die Sonne verkörperte, verpasste man ihm den Namen «Sonnenkönig», mit dem er schliesslich in die Geschichte einging.
Napoleons Auftrag
Während ihrer 350 Jahre zog die Institution «Opéra de Paris» immer mal wieder von einem Ort an den anderen um. Oft waren Feuersbrünste daran schuld. Dann, am 14. Januar 1858, geschah vor der Salle Le Peletier, wo die Oper damals untergebracht war, ein Anschlag auf Kaiser Napoleon III., als er die Vorstellung besuchen wollte. Napoleon III. blieb unverletzt und gab daraufhin den Auftrag, eine neue Oper zu bauen, eine mit diskretem Seiteneingang, zur sicheren Vorfahrt von Kaisern und Königen. Der Auftrag ging an Charles Garnier, den Standort bestimmte George-Eugène Haussmann, der Paris damals das Aussehen verpasste, das die Stadt noch heute so unvergleichlich macht. Am 5. Januar 1875 wurde schliesslich die pompöse Opéra Garnier eingeweiht – ohne Napoleon III., der zwei Jahre zuvor verstorben war.
Die Opéra Garnier wurde zum Prunkstück des neuen «Paris haussmannien» mit seinen grossen Boulevards und den prächtigen Gebäuden. Die Opéra Garnier wurde auch Vorbild für viele andere Opernhäuser. Das Grand Théâtre in Genf zum Beispiel orientiert sich ebenfalls an der Opéra Garnier.
Neue Oper an der Bastille
François Mitterrand schliesslich war es, der die «Opéra Bastille» bauen liess, die vor allem auch technisch ganz andere Möglichkeiten bot. Ansonsten ist sie ein schmuckloser riesiger Bau an geschichtsträchtiger Adresse. Prunk und Pracht also weiterhin in der Opéra Garnier, technischer Komfort und viel Platz für mehr als 2’700 Besucher und anspruchsvolle Aufführungen in der Bastille. So ist es im grossen Ganzen heute noch.
Zur feierlichen Eröffnung spielte man damals «Les Troyens» von Hector Berlioz. Und «Les Troyens» stehen nun für das Bastille-Jubiläum auch wieder auf dem Spielplan. Diesmal unter der musikalischen Leitung von Philippe Jordan. Ein gewaltiges Werk von über fünf Stunden Dauer. Ein Zweiteiler, dessen zwei Teile nicht ganz zueinander passen. Eine Krux, auch in der neuen Inszenierung.
Breaking News bei den Trojanern
Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov hat Troja in die Gegenwart versetzt: eine düstere, bedrohliche Stadt, der man die Kriegsschäden ansieht. Bewohner auf der Flucht, Breaking-News-Schlagzeilen, wie wir sie vom US-Fernsehen her kennen … daneben die Machthaber im Erscheinungsbild der Royals, in Pastell und Prunk. Dazwischen: Cassandra, wutentbrannt und gefährlich. Im zweiten Teil dann ein Rehabilitationszentrum für Kriegstraumatisierte. Das hat dem Pariser Premierenpublikum nun aber überhaupt nicht gefallen. Ein Buh-Sturm sondergleichen ist durch die «Bastille» gerauscht … Und auch die Kritiker lieferten sich ein heftiges Gefecht zwischen Pro und Kontra. Fünf Tage nach der Premiere hat sich der Sturm gelegt: kaum Buhs, stattdessen herzlicher Applaus, der geradezu überschwänglich wird für Cassandre-Darstellerin Stéphanie d’Oustrac, aber insbesondere auch für Philippe Jordan und das Orchester.
Kain und Abel
Die Opéra Garnier feiert das Jubiläum dagegen mit einem Barockwerk: «Il primo omicidio» von Alessandro Scarlatti, einem Zeitgenossen von Jean Baptiste Lully. Das Werk ist keine Oper, sondern ein Oratorium und wird eher selten aufgeführt. In Paris ist es Romeo Castellucci, der den «ersten Mord» in Szene setzt. Die Geschichte geht auf die Bibel zurück, auf Kain und Abel. Nichts Barockes, nichts Antiquiertes gibt es zu sehen, stattdessen magische Bilder, die vor allem aus Lichteffekten bestehen, zeitlos stilisiert und entrückt. Dazu geradezu hypnotisierende Musik, gespielt vom B’Rock Orchestra unter der Leitung von René Jacobs.
Nicht alles, was Castellucci sich überlegt hat, erschliesst sich auch dem Publikum. Egal. Man sitzt drin und lässt sich hinwegtragen. Und wenn man anschliessend im Schneetreiben aus der Opéra Garnier auf die strahlend beleuchtete Avenue de l’Opéra hinaustritt, dann nimmt man die wunderbaren Klänge im Ohr mit und darf weiterhin darüber nachdenken, was uns der Regisseur mit seiner Inszenierung sagen wollte. Wunderschön war’s auf jeden Fall.
Verschiedene spektakuläre Produktionen werden im Laufe des Jahres aus Anlass des Jubiläums noch zu sehen sein. So wird Philippe Jordan eine Neu-Inszenierung des «Don Giovanni» herausbringen und zum Ende der Jubiläums-Feierlichkeiten Borodins «Fürst Igor». Und im Mai gibt es noch ein Gala-Konzert mit Anna Netrebko.