Montags von 20.00 bis 22.00 Uhr geht der Kultursender von SRF mit seinem Auftrag aufs Ganze. In epischer Gründlichkeit beschäftigt er sich mit Werken aus dem Kanon der klassischen Musik aller Epochen zwischen Mittelalter und Gegenwart. Die Grundform der Sendung – sie wird in Einzelfällen etwas variiert – vergleicht fünf Aufnahmen ein und desselben Werks. Zwei Experten (Musikerinnen, Kritiker, Musikologinnen) examinieren im Blindtest Ausschnitte der Aufnahmen und engen die Auswahl fortlaufend ein, bis sie sich auf die beste einigen. In der Moderation wechseln sich Lislot Frei, Gabriella Kägi, Eva Oertle und Roland Wächter ab.
Einsteigen oder aussteigen
«Diskothek» ist für Hörerinnen und Hörer gemacht, die den Willen und die Möglichkeit haben, volle zwei Stunden konzentriert und ungestört zuzuhören. Für Multitasking, wie bei heimischem Medienkonsum sonst üblich, ist die Sendung gänzlich ungeeignet. Nebenher Hemden bügeln, dem Online-Socializing frönen oder gar eine Real-Life-Plauderei abhalten? Nein, denn wer nur ein bisschen reinhörte, bekäme so viel wie nichts mit. «Diskothek» stellt eine in der heutigen Medienwelt ungeheuerliche Forderung: einsteigen oder aussteigen.
Am Montagabend bin ich wenn immer möglich pünktlich um acht bereit. Ich richte mich für die zwei Stunden bequem ein. Die Musikanlage darf etwas mehr tun als sonst; ich will ja alles hören. Die Moderatorin situiert kurz das Stück, stellt die Experten vor, ein erster Ausschnitt aus Aufnahme eins erklingt, eventuell direkt anschliessend dasselbe in der Aufnahme zwei. Nun sind die Experten am Zug. Sie äussern allgemeine Eindrücke, verifizieren diese an Details, rascheln auch mal mit der Partitur und beziehen sich auf Taktnummern (die ich nicht vor mir habe). Ab und zu werden einzelne Passagen, von denen die Rede ist, nochmals erläuternd eingespielt.
Schule des Hörens
Mit genauem Hören, Partiturlesen und Vergleichen spürt die Runde den Intentionen der Interpreten nach und deckt deren unterschiedliche Verständnisse des Werks auf. Machen die Diskutanten ihre Sache gut – und das heisst: beschreiben sie ihre Höreindrücke präzis, unterlegen sie ihre Urteile mit Sachwissen, stellen sie Verbindungen her mit zuvor gemachten Aussagen – , so bin ich bald mit drin im Gespräch, folge einer Meinung oder weiche von ihr ab.
Endlich beginne ich zuhause ähnlich scharf und tief zu hören wie die Experten im Studio. Sie machen mich aufmerksam auf eine hervorgehobene Phrase hier, einen Dialog zwischen zwei Instrumenten dort, weisen hin auf Nuancen zwischen energischer und grober, zwischen feiner und undeutlicher Artikulation. So zu hören ist Arbeit und Genuss zugleich. Es öffnen sich Ausdrucks- und Gedankenwelten, die bei bloss konsumierendem Musikgebrauch niemals zum Vorschein kommen.
Werk und Interpretation
Obschon die «Diskothek» nebenbei eine Menge Wissen vermittelt, hat die Sendung keinen Schulfunk-Charakter. Die Leute reden nicht mittels eines didaktischen Gesprächs zum Publikum, sondern sie diskutieren angeregt unter sich im Studio. Diskursive Freiheit bei klar vorgegebener Struktur macht die «Diskothek» offen wie ein Schachspiel und ausgesprochen unterhaltend. Kommen noch das kompetitive Element und die gespannt erwartete Offenlegung nach dem Blindtest hinzu. Wird meine favorisierte Aufnahme drei es in die nächste Runde schaffen? Und liege ich richtig mit der Vermutung, András Schiffs pianistische Handschrift erkannt zu haben?
Hinter all den Auseinandersetzungen über Kompositionen, Aufführungspraktiken, musikalische Auffassungen und die Qualität der Darbietungen steckt eine Grundgegebenheit abendländischer Kunstmusik: der essenzielle Bezug zwischen Werk und Interpretation. Kompositionen sind als Notentexte stumm. Um Partituren zum musikalischen Leben zu bringen, bedarf es beträchtlicher Kenntnisse, musikhandwerklicher Fertigkeiten und schliesslich auch eines schöpferischen Vermögens, eben der Interpretation.
Interpretatorische Freiheiten gibt es in mehreren Dimensionen. Eine erste davon kann schon in der Wahl der Instrumente und Formationen bestehen. Stimmungen sind im physikalischen und emotionalen Sinn variabel. Zeitgeist und künstlerische Auffassungen der Interpreten fliessen unüberhörbar ein. Je nach Interpretation «sagt» ein und dieselbe Komposition Verschiedenes. Und immer wieder regen ein Werk und seine Aufführungsgeschichte dazu an, es neu zu Gehör zu bringen, eine «zeitgemässe» Lesart zu suchen. Die «Diskothek» demonstriert solche Verlagerungen manchmal mit dem Einbezug historischer Aufnahmen.
Im Kern abendländischer Kultur
Gedanken aus früheren Zeiten unter neuen Denkvoraussetzungen zu verstehen und für die geistige Weiterentwicklung der Gegenwart fruchtbar zu machen: Darin steckt quasi die Signatur abendländischer Geistesgeschichte und Kultur. Mit der Dynamik der Moderne hat dieser Prozess eine Schlüsselfunktion erlangt. Die Philosophie reflektiert ihn unter der Bezeichnung Hermeneutik als Lehre vom Übersetzen, Auslegen und Verstehen.
Mit ihrer Grundkonstellation von Text und Interpretation verkörpert die abendländische Kunstmusik das hermeneutische Prinzip in idealtypischer Weise. Mit Sicherheit ist es kein Zufall, dass musikalische Praxis und Musikverständnis nachweislich eng verknüpft sind mit den in der modernen Zivilisation primär geforderten kognitiven Kompetenzen und sozial-emotionalen Fähigkeiten. Auffallend viele Genies sind musikalisch begabt, und guter Musikunterricht steigert statistisch den Bildungserfolg.
Mit «Diskothek» schafft SRF 2 Kultur wöchentlich neue Zugänge zur Musik. Die Sendung gibt Interessierten die Möglichkeit einer exemplarischen Auseinandersetzung mit klassischen Werken. Wer sich darauf einlässt, gewinnt in der intensiven Beschäftigung mit Kompositionen und Interpretationen auch eine Vorstellung von der immensen geistigen Bedeutung solcher Musik.
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Die nächste Diskothek vom 9. Dezember befasst sich mit dem 5. Madrigalbuch von Carlo Gesualdo. (Heute gibt es keine «Diskothek»; sie macht einem ganztägigen «Hörpunkt» Platz.)