Der Weihnachtsabend naht, was auf den Tisch kommt, steht traditionell fest oder in Kochbüchern. Um den Tisch: Familie oder verträgliche Freunde. Die Katze verhält sich dem Tannenbaum gegenüber eher höflich abwartend.
Aber dann muss noch vorgelesen werden. Das 2. Kapitel bei Lukas mit seinen befremdlichen Aktualitäten hatten wir schon (unsichere Vaterschaft, Datensammlung der Behörde, die vergebliche Wohnungssuche, Geflügel auf dem Felde bei den Hürden, überraschende Besucher im Stall; zuletzt: staatlich betriebener Kindermord und Flucht). Eine Geschichte sollte es sein, die spannend oder humorvoll ist. Die den Besinnlichkeitssehnsüchtigen ihren Auslauf gibt und den anderen schrägen Stoff.
Erstens: John Irving hat eine unvergessliche Weihnachtsgeschichte in seinem Roman «Owen Meany» versteckt, im 5. Kapitel («Der Geist der Zukunft»). Wem 27 Seiten zu lang dauern, beginnt erst auf S. 292, wo sich zwei schwer erkältete Laiendarsteller durch Kälte und beißenden Pulverschnee den Weg zur Christ Church bahnen und einem Mr. Fish begegnen, der noch nie an Weihnachten in der Kirche war. Dort findet die Aufführung eines Krippenspiels statt, wie jedes Jahr «Das Weihnachtslied» von Dickens. Alles kommt dann aber ein wenig anders, und das liegt nicht nur an der Wärme im Altarraum, die auf S. 307 den hinteren Teil eines Esels ohnmächtig werden lässt, welcher dann auch den vorderen Teil zu Fall bringt. Auch die Engelsmaschine funktioniert nicht ganz wie erwartet, die Verkündigung bleibt stecken, Maria und das Kind fallen ins Heu und danach fliehen einige Kirchgänger. Erzählt wird die ernsthafte Groteske aus der Perspektive des Joseph-Darstellers, der den Überblick bewahrt, von der Lichtregie und dem strampelnden Engel bis hin zu der kleinen, vergänglichen Erektion des Jesuskinds. Wer «Owen Meany» dann noch ganz liest, hat über die Weihnachtsfeiertage zu tun und schafft sich die Erinnerung an einen der eindrücklichsten, seltsamsten Romane über Religiosität. Bei Diogenes lieferbar seit 1990.
Zweitens: «Am meisten hat Vater sich jedesmal zu Weihnachten Mühe gegeben. Da fiel es uns aber auch besonders schwer, darüber wegzukommen, dass wir arbeitslos waren.» Die Schaufensterauslagen sind für den Sohn, der die Geschichte erzählt, so unerreichbar wie für den Vater; um der eiskalten Wohnung zu entkommen, verbringen die beiden viele Stunden im Museum. Vom Museumswärter borgen sie dann auch einen Spaten, um sich für die entscheidenden Tage eine Blautanne aus einer öffentlichen Anlage zu entleihen … «Die Leihgabe» von Wolfdietrich Schnurre – 1958 vom Verleger Peter Schifferli in einem schmalen Arche-Band («Die Flucht nach Ägypten») veröffentlich – ist vor wenigen Wochen erst illustriert von Klaus Ensikat, neu erschienen beim Aufbau Verlag. Das Werk des menschenfreundlichen und scharfsinnigen Erzählers Schnurre wird gerade wieder entdeckt, auch sein Meisterwerk («Der Schattenfotograf») ist wieder zu bekommen: eines der 10 Bücher für die einsame Insel. Auf Silvester verweist diese Weihnachtsgeschichte auch. Dort wo der Vater seinem Sohn klarmacht, dass man nicht früh genug anfangen kann mit der Weihnachtsfreude: «Man muss mindestens schon einen Monat vorher mit Fröhlichsein anfangen. Zu Silvester, da kannst du dann getrost wieder traurig sein; denn es ist nie schön, wenn ein Jahr einfach so weggeht.»
Drittens: «Die Geschichte ist so schön, so heiter und zu Herzen gehend, wie es alle Bücher von Mühlenweg sind... Das Büchlein ist das wovon es spricht: ein Geschenk.» Ludger Lütkehaus schrieb das in seiner ZEIT-Rezension über Fritz Mühlenwegs «Der Christbaum von Hami» (mit Zeichnungen von F. W. Bernstein). Drei Europäer am Rand der Wüste Gobi versuchen einen Weihnachtsbaum zu finden. Nach einem beschwerlicher Ritt ins Gebirge ist da zwar kein Baum, aber sie landen dafür in der Jurte von gastfreundlichen Nomaden. Keiner spricht die Sprache des andern, aber es gibt ja noch andere Formen von Verständnis. Und auf dem Heimweg am andern Tag begegnen sie sogar einem Christbaum … Mühlenweg war tatsächlich in der Gobi gewesen, Weihnachten 1927. Die Geschichte schrieb er, als ihn sein Roman «In geheimer Mission durch die Wüste Gobi» berühmt gemacht hatte und zu Weihnachten in seinem Allensbacher Haus seine sieben Kinder auf Geschenke warteten.
PS: Und Heinz, dessen Stammkneipe am Weihnachtsabend geschlossen hat, weswegen er wie immer solitär hinter seinen heruntergelassenen Jalousien bleibt; Heinz also kann bei seinem leckeren Alkohol nicht schon wieder Jerofejews «Die Reise nach Petuschki» oder Pitigrillis «Kokain» lesen. Er soll sich eine druckfrische, von Maurice Vellekoop hinterhältig schön illustrierte Neuerscheinung aus dem Zürcher Verlag Walde + Graf leisten. In ihr wird vom 1. bis zum 19. Kapitel auch sehr viel getrunken, in wechselnder Gesellschaft. Kein Wunder, das Buch heißt «Parties» und dass Carl van Vechten diesen Roman aus dem New York der Roaring Twenties schon vor 80 Jahren geschrieben hat, lässt die Übersetzung von Egbert Hörmann anmutig vergessen. Bis zum letzten Toast («Wir sind hier, weil wir hier sind, und wir wären extrem blöd, wenn wir nicht das Schlimmste daraus machen würden.»)