Seit über drei Wochen dauert eine Protestwelle im irakischen Süden an. Sie begann in Basra, der grössten Stadt der südlichen Provinzen, und dehnte sich rasch über den ganzen Südirak aus, bis sie auch Bagdad erreichte. Getragen wird die Protestbewegung von jungen Männern. Die meisten von ihnen sind arbeitslos. Sie ziehen auf die Strassen und demonstrieren vor den Gebäuden der Provinzverwaltungen. Auch an den Strassen, die zu Ölfeldern oder anderen Einrichtungen der Erdölindustrie führen, ballen sie sich zusammen und suchen diese zu sperren. Vor den Toren solcher Komplexe finden sich Massen ein, fast immer ohne in die Anlagen selbst einzudringen.
Niedergang trotz Erdölboom
Die grössten und heute ergiebigsten Teile der irakischen Ölproduktion liegen im Süden, und eines der Themen der Proteste ist, dass der Süden „nichts“ von den Geldern sehe, die doch aus seinen Landesteilen hervorgingen. Das „Nichts“ bezieht sich sehr klar auf unzureichende Infrastrukturen und fehlende Dienstleistungen der Regierung. Der Mangel an Elektrizität führt dazu, dass die meisten Städte und Ortschaften bloss sechs Stunden am Tag Strom erhalten – und dies in einem Klima, das manchmal 50 Grad Hitze übersteigt. Alle Wasserfragen sind kritisch, es fehlt sowohl an Trinkwasser wie an Bewässerung für die Landwirtschaft.
Viele Iraker haben sich Klimageräte angeschafft, die als Importprodukte leicht zu bekommen sind. Doch um sie in den Stunden der grössten Hitze betreiben zu können, müssen sie sich an private Elektrizitäts-Produzenten wenden, deren improvisierte Betriebe meist in Eckpositionen von Häuserblöcken anzutreffen sind. Ihre Kleingeneratoren werden mit Diesel betrieben und sie verkaufen ihre Produktion. Dabei verpesten sie natürlich die Luft in den Städten. Die Versorgung mit Trinkwasser ist immer noch mangelhaft und vielerorts versalzt es.
Basra war einst als das Venedig des Ostens bekannt, wegen seiner Kanäle. Die Bewohner von Kuweit kamen dort Ferien machen. Heute liegen diese Kanäle entweder ausgetrocknet und mit Abfall überfüllt da, oder sie enthalten Reste von stehendem Wasser, in denen Abfall und die Kadaver von Hunden und Katzen vermordern. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, sie soll bei über zwanzig Prozent liegen. Nicht zu Unrecht führen die protestierenden jungen Männer ihre Lage auf die Korruption der verantwortlichen hohen Beamten und der Politiker zurück, die mit diesen zusammenarbeiten.
Korruptionsfördernder Zentralismus
Der Umstand, dass praktisch das gesamte Staatseinkommen des Landes aus einer einzigen Quelle stammt, dem Erdöl, und dass diese Gelder an einigen wenigen staatlichen Stellen zusammenlaufen, in erster Linie beim Erdöl- und dem Finanzministerium, macht es leicht, Gelder von diesen Stellen abzuzweigen, falls man ein Mitspracherecht in den Ministerien besitzt. Um derartige „Mitspracherechte“ balgen sich die irakischen Politiker und sogenannten Parteien, die meist kein wirkliches politisches Progamm aufweisen, sondern bloss aus einem„Starken Mann“ und seiner Klientel bestehen. Nach zähen Kämpfen teilen diese „Parteien“ die ministeriellen Pfründen unter sich auf, wobei jede von ihnen darauf ausgeht, ihren Anteil zu erhalten.
Gegenwärtig befindet sich der Irak in einer Phase neuer Verteilungskämpfe um die „Mitsprache“-Positionen. Im Mai waren Wahlen durchgeführt worden. Doch es gibt immer noch kein offizielles Resultat. Klagen über Wahlfälschungen und Manipulationen führten dazu, dass das Parlament beschloss, die offizielle Wahlkommission abzusetzen und an ihrer Statt richterliche Kommissionen zu bestellen. Diese haben Klagen aufzuklären und eine Zweitzählung der Stimmen zu beaufsichtigen. Die elektronischen Wahlmaschinen, die bei der Wahl verwendet worden waren, gelten als eines der Werkzeuge der angeblichen Wahlfälschungen.
Doch Zyniker könnten sagen, die gegenwärtig noch amtierenden alten Parlamentarier haben ein Interesse daran, den Wahlvorgang nicht zum Abschluss zu bringen und auch die Diskussionen über die Bildung einer neuen Regierung möglichst lange hinauszuziehen. Denn solange die alten Parlamentarier und die bestehende Interimsregierung an der Macht bleiben, können sie ihre Plätze an den finanziellen Futterkrippen behalten. Wenn es nach allem endlich zur Bildung einer neuen Regierung käme, würden andere an diese Krippen gelangen – und möglicherweise sogar ihre Vorgänger wegen Korruption anklagen.
Die jungen Leute des irakischen Südens schauen nach Bagdad und sehen dort Korruption. Ihr geben sie die Schuld für die Zustände, die in ihrem Landesteil herrschen. Deshalb ist „Schluss mit der Korruption!“ der Hauptslogan und die Hauptforderung der Demonstranten.
Hort des Widerstands
Die besondere Lage der von einer schiitischen Mehrheit bewohnten südlichen Provinzen innerhalb des irakischen Staates ist dadurch gegeben, dass die Erschütterungen und Kriegshandlungen der letzten Jahre mit dem IS im Norden des Landes den Süden nicht direkt betrafen. Es gab dort nur die Furcht vor dem IS und den Hass auf ihn sowie den schiitischen und patriotischen Widerstand, der sich in der Bildung von zahlreichen Kampfgruppen Freiwilliger aus dem Süden zeigte.
Die Südländer können von sich sagen, dass sie das Land gerettet haben, weil ihre Freiwilligen, von den schiitischen Geistlichen mobilisiert, Bagdad schützten, als die offizielle irakische Armee zusammengebrochen war und der IS kurz nach seiner Eroberung Mosuls im Juni 2014 die Hauptstadt bedrohte.
Die Kämpfer aus dem Süden waren später bei der Rückeroberung des irakischen Nordens stets mit dabei, und ihre Einheiten sind als Hilfs- und Vorhuttruppen in die wieder aufgebaute irakische Armee eingegliedert, jedoch unter ihren eigenen Kommandanten, nicht unter der offiziellen Heeresführung.
Vernachlässigter Süden
Für die grosse Zahl der zuhause gebliebenen oder inzwischen herangewachsenen männlichen Jugendlichen bedeutet dies, dass sie alle Kollegen haben, gleichaltrige oder etwas ältere, die es schafften, staatliche oder halbstaatliche Stellungen im Sicherheits- und Militärapparat zu ergattern. Oft sind sie stationiert im irakischen Norden. Sie werden vom Staat entlohnt und sind damit in den Augen der Masse der Arbeitslosen an den Futterkrippen von Bagdad angelangt. Dies verstärkt das Gefühl von: „Die Korruption dient den Anderen in Bagdad und in den nördlichen Landesteilen“.
In der Tat war ja auch in den letzten Jahren des Kampfs gegen den IS die Aufmerksamkeit der Regierung, der Politiker und der Kämpfer – der Regulären und der Milizsoldaten – ganz auf den Norden gerichtet. Zuerst ging es um die Rückeroberung und nun, da diese abgeschlossen ist, um die Fragen des wegen Geldmangels und Korruption schwierigen und manchmal höchst problematischen Wiederaufbaus. Der Süden muss sich ignoriert und vernachlässigt fühlen.
Wirkungslose Beruhigungsversuche
Ministerpräsident al-Abadi, der seit dem vergangenen Mai als Chef einer Übergangsregierung wirkt, bis eine neue Regierung zustande kommt, hat sofort auf die Unruhen reagiert, als sie am 8. Juli in Basra ausbrachen. Er flog nach Basra und machte Versprechungen. Er erklärte, es würden drei Milliarden Dollars für Basra bereitgestellt. Dies werde Arbeitsplätze, neue Schulen und Wohnungen, bessere öffentliche Dienste bringen. Der Staat werde 10’000 neue Stellen schaffen.
Doch gleichzeitig wurden Sicherheitstruppen nach dem Süden gebracht, das Internet wurde vielerorts unterbrochen, um die Mobilisierung von weiteren Demonstranten zu verhindern. Die Truppen gingen energisch gegen die Demonstranten vor. Es gab viele Verletzte und Gefangene, die Zahl der Toten stieg auf 16, verteilt auf die meisten Provinzhauptstädte. Weder die Versprechungen noch die Niederhaltungsversuche fruchteten bisher. Die Demonstrationen dauern an und umfassen den ganzen Süden bis nach Bagdad hinauf.
Sistani, der hochangesehene erste Ayatollah des Landes, liess über seinen Vertreter mitteilen, er halte die Demonstrationen für gerechtfertigt und die Regierung müsse etwas tun, um den Bedürfnissen der Bevölkerung nachzukommen.
Die Demonstranten gehen auch gegen örtliche Sitze von Parteien vor, weil ihre Wut auf die Politiker gross ist. Dabei sind die schiitischen, Iran zuneigenden Gruppierungen keineswegs ausgenommen. Die Protestierenden sehen nicht ein, warum viel irakisches Geld in die Pläne und übernationalen Aktionen der iranischen Revolutionswächter fliessen soll, wo es den Irakern so schlecht geht.
Erste praktische Massnahme
Am 29. Juli hat al-Abadi einen ersten praktischen Schritt unternommen, um auf die Forderungen der Demonstranten zu reagieren. Er suspendierte den Elektrizitätsminister und ordnete eine Untersuchung darüber an, weshalb die Produktion und Verteilung von Elektrizität noch immer nicht funktioniert.
Qasim al-Fahdawi ist keineswegs der erste unter den mit dem Wiederaufbau des Elektrizitätswesens betrauten Ministern, der entlassen wurde oder unter Druck zurücktreten musste. Seit dem amerikanischen Krieg gegen den Irak vom Jahr 2003 hat es ihrer viele gegeben. Einer von ihnen floh gar ins Ausland. Ihm wird vorgeworfen, 300 Millionen Dollar unterschlagen zu haben.
Phantomfirmen
Eines der im Irak bekannten Vorgehen der Ministerialbürokratie (mit oder ohne Beteiligung des Ministers) besteht darin, dass neue Firmen geschaffen werden, an denen Vertrauensleute der korrupten Beamten und Politiker beteiligt sind. Diese Firmen erhalten dann Grossaufträge durch die Ministerien, denen sie nicht nachkommen, und die Firmen verschwinden mit den Geldern, die ihnen bezahlt worden sind. So sollen, den Gerüchten nach, Milliarden verschwunden sein.
Derartige Angelegenheiten sind im Irak schwer zu untersuchen, weil es Verbindungen gibt zu den Parlamentariern und diese wiederum über Verbindungen zu den Richtern verfügen. Die Demonstranten im Südirak jedenfalls zeigen sich überzeugt, dass die angekündigten Untersuchungen keine Resultate hervorbringen werden. Doch ihre Forderungen von „jetzt und sofort ein Ende der Korruption, mehr Arbeitsplätze und bessere Infrastrukturen!“ sind leider unrealistisch, weil sie den Weg nicht aufzeigen, wie dies geschehen soll.
Der Provinzrat von Basra droht, die erdölreiche Provinz werde Teilautonomie verlangen, wenn die Regierung von Bagdad den Forderungen der Demonstranten nicht nachkomme. Dies ist eine Möglichkeit, die der Provinz gemäss der Verfassung zusteht.