Der ballistische Flugkörper fiel nach 450 Kilometern ins Japanische Meer. Laut Pjöngjang war er mit einer „neuartigen Präzisionslenkung“ ausgestattet.
Eine Entwicklung aus der Sowjetzeit
Japan protestiert, die Medien produzieren Schlagzeilen. Warum die Aufregung? Die im Nato-Code Scud genannte Rakete ist eine sowjetische Entwicklung aus den siebziger Jahren. Moskau lieferte die auf Fahrzeuge montierten Raketen an zahlreiche Länder, darunter an den Irak und an die damals mit der Sowjetunion verbündete Regierung Afghanistans.
Saddam Hussein setzte im ersten Golfkrieg Scud-Raketen gegen Israel ein, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Zu den Empfängern gehörte auch Nordkorea. Die Nordkoreaner motzten die Raketen auf und verkauften eine Anzahl davon an Iran. Den Iranern diente die simple Technologie später als Grundlage für Eigenentwicklungen.
Bis auf den Boden der USA?
Nordkorea hat in den letzten Monaten aber auch Mittel- und Langstreckenraketen getestet. Kim Jong Un brüstet sich mit seiner angeblichen Fähigkeit, die USA in Schutt und Asche zu legen. Obwohl dieses Getöse wohl in erster Linie die eigene Bevölkerung von der Grossartigkeit des Regimes überzeugen soll, ist ein Kriegsrisiko nicht auszuschliessen. Der Direktor des Militärgeheimdienstes der USA, General Vincent Stewart, erklärte vergangene Woche vor dem Senat: „Wenn wir nichts dagegen tun, wird es Nordkorea unweigerlich gelingen, eine Rakete zu bauen, die Atomwaffen bis auf den Boden der USA tragen kann.“
Der renommierte US-Raketenexperte John Schilling schätzt, dass Nordkorea bis 2025 eine mit solidem Treibstoff gefüllte Langstreckenrakete entwickeln wird, deren Reichweite die USA einschliesst.
Ominöser Test vom 14. Mai
Grund zur Sorge lieferte ein Raketentest, den Nordkorea am 14. Mai durchführte. Die Rakete stieg über 2000 Kilometer hoch und stürzte dann weniger als 800 Kilometer entfernt ins Meer. Die ungewöhnlich steile Bahn wurde offenbar gewählt, um den Radius des Versuchs zu begrenzen. Ballistische Raketen funktionieren im Grund wie eine Kanonenkugel: Sie fliegen einen Bogen, der von der Startenergie und der Erdanziehungskraft bestimmt wird.
Was den Test vom 14. Mai von früheren unterscheidet, ist die erstmalige Verwendung von solidem Treibstoff anstelle von flüssigem. Raketen vor ihrem Start mit flüssigem Treibstoff zu füllen, ist eine langwierige und brandgefährliche Operation. Eine mit solidem Treibstoff gefüllte Rakete hingegen ist jederzeit einsatzbereit.
Das Trio der Raketenbauer
Der Flugtest vom 14. Mai stellt daher nach Ansicht von Schilling „eine bisher noch nie erreichte Leistung der nordkoreanischen Raketenbauer dar“. Mittlerweile kennt man auch deren Namen. Laut westlichen Geheimdiensten handelt es sich um Ri Pyon Chol, Kim Jong Sik und Jang Chang Ha. Dieses Trio ist auf etlichen offiziellen Fotos mit dem Diktator Kim Jong Un abgebildet – aber nicht in unterwürfiger Geste und die Worte des grossen Führers notierend, sondern herzlich lachend. Alle drei tragen Generalsuniform, kommen jedoch aus der Wissenschaft.
Wenn die Nordkoreaner in der Raketentechnik dank ihrer langen Erfahrung Fortschritte ausweisen, sieht es für sie beim Bau von nuklearen Gefechtsköpfen weniger rosig aus. Nordkorea hat bisher fünf unterirdische Atomwaffenversuche unternommen. Dazu gehört nach den Angaben der Führung in Pjöngjang der Test einer thermonuklearen Atombombe. Klassische Atombomben lösen eine Kernspaltung von Uran- oder Plutonium-Isotopen aus. Die hundertfach stärkeren thermonuklearen Waffen beruhen auf der Kernschmelzung von schweren Wasserstoff-Isotopen wie Deuterium.
Noch keine H-Bombe und keine Gefechtsköpfe?
Nach den Messungen der westlichen Beobachtungsstationen waren bisher alle nordkoreanischen Atomwaffenversuche Flops. Der angebliche Wasserstoff-Sprengsatz erreichte etwa die Sprengwirkung der Hiroshima-Bombe. David Albright, ein früherer Waffeninspektor der Uno im Irak und Leiter des „Institute for Science and International Security“ in Washington vermutet, dass die Nordkoreaner einen gewöhnlichen Atomsprengkörper mit thermonuklearen Elementen zu dopen versuchten.
Nach den derzeitigen Erkenntnissen scheint es zweifelhaft, dass die Nordkoreaner in absehbarer Zukunft nukleare Gefechtsköpfe herstellen können, die auf ballistische Raketen passen. Die äusserst komplexe Zündung einer Atombombe über dem Ziel nach dem Wiedereintritt des Flugkörpers in die Atmosphäre übersteigt wohl ebenfalls ihre technischen Fähigkeiten.
Ein Atomsprengkörper setzt eine „kritische Masse“ von Spaltmaterial voraus – je nach Reinheit zwischen 10 und 20 Kilo Uran 235 oder Plutonium 239. Diese Masse wird in zwei Halbkugeln getrennt, damit sie nicht selbst eine Kettenreaktion auslöst. Beim Anflug der letzten Raketenstufe auf ihr Ziel werden die beiden Halbkugeln ferngesteuert zusammengefügt. Mit einem konventionellen Hochexplosivstoff wird sodann die zu einer nuklearen Kettenreaktion nötige Druckwelle ausgelöst. Der ganze Vorgang darf nur einige Sekunden dauern. Ein Schutzmantel soll den Gefechtskopf bei der Durchquerung der Luftschicht vor dem Verglühen bewahren.
Sehr hohe technische Hürden
Die Zündung einer thermonuklearen Bombe ist noch wesentlich komplizierter, weil eine Kernspaltung vorgeschaltet werden muss, die eine Temperatur von mehreren Millionen Grad Celsius erzeugt. Man spricht von einem Drei-Phasen-Sprengkörper.
Von diesen Optionen sind die Nordkoreaner noch weit entfernt und werden sie vielleicht nie erreichen. Das sind die Gründe, warum die betroffenen Staaten trotz aller Kriegsrhetorik nicht in Panik geraten.