Wenn Washington dem syrischen Aufstand keine Waffen verschafft, mit denen er sich gegen die syrische Luftwaffe und syrische Panzer wirksam zur Wehr setzen kann, muss man erwarten, dass die Kämpfe sich lang und zerstörerisch hinziehen werden. Man muss auch gewärtigen, dass die islamistischen Kämpfer vom Zerfall des syrischen Staates profitieren und am Ende einen gewichtigen oder entscheidenden Machtfaktor in Syrien bilden werden.
Wenn Washington jedoch die Waffen liefert, besteht die Gefahr, dass sie in die Hände der islamistischen Kämpfer geraten und diese zum Schluss ebenfalls in eine Lage gelangen, die ihnen erlauben würde, Syrien zu beherrschen - genauer gesagt, die dann noch verbleibenden Überreste des Landes zu dominieren.
Das Gewicht der Islamisten
Dieses unerfreuliche Dilemma kommt dadurch zustande, dass die islamistischen Kämpfer - soweit von aussen erkenntlich – schon gegenwärtig zu den bestorganisierten, bestbewaffneten und am entschlossendsten kämpfenden Gruppen gehören. Washington hat die an-Nusra Front als terroristische Gruppe klassifiziert. Doch es scheinen regelmässig die Kämpfer dieser islamistischen Front zu sein, die Fortschritte gegen die syrischen Truppen erringen, etwa bei den Versuchen, syrische Flugfelder zu erobern und die dortigen Waffen zu erbeuten.
Nusra dürfte aber auch für verheerende Bombenanschläge verantwortlich sein, denen massenweise Zivilisten zum Opfer fallen, was man nur eine Terroraktivität nennen kann. Trotzdem haben die anderen Kampfgruppen die USA dafür kritisiert, dass sie Nusra auf ihre Terrorliste gesetzt haben. Dies zweifellos, weil die Kämpfer von Nusra für den Fortschritt der Rebellion nützlich, möglicherweise gar bereits unentbehrlich geworden sind.
Wie gross ist das islamistische Gewicht wirklich?
Die Rebellen und ihre Sympathisanten - darunter in wichtiger Position die Türkei - legen den Amerikanern ein Argument vor, das die Bedeutung von Nusra zu mindern sucht. Es lautet: Nusra und andere extremistische Islamisten zögen Kämpfer an, nicht unbedingt weil sie ihrer Ideologie zustimmten, sondern viel mehr, weil sie die besten und wirksamsten Waffen besässen und auch das meiste Geld. Daher seien sie in der Lage, am erfolgreichsten zu kämpfen und dazu auch noch der leidenden Bevölkerung organisatorische und materielle Hilfe zu gewähren. Was alles natürlich ihr Prestige erhöhe.
Dieses Argument führt zu dem Schluss: Wenn wir, die nicht islamistischen Gruppierungen, die guten Waffen erhielten und in die Lage kämen, der Bevölkerung Hilfe zu leisten, würden wir die Islamisten leicht ausstechen!
Rätselraten im Nebel des Krieges
Natürlich wird auch über die Zahl dieser Islamisten diskutiert: Sind sie in Wirklichkeit sehr viele oder sehr wenige? Auch ihre Beliebtheit und Popularität bei der Bevölkerung ist unklar. Bei all diesbezüglichen Informationen und Meinungen ist festzuhalten: Die Informationslage ist äussert undurchsichtig, und natürlich ist jede Seite bestrebt, die wenigen Informationen, über die man verfügt, in ein Licht zu stellen, das ihre Interessen begünstigt.
Langfristig droht Gefahr!
Mit allen Vorbehalten, die dabei angebracht sind, scheint es jedoch in der Gesamtentwicklung zu liegen, dass viel Zerstörung, eine lange Dauer des Krieges und permanente Kleinkämpfe in verschiedenen Teilen des Landes dazu führen werden, dass das Gewicht der Islamisten und ihrer Kämpfer immer weiter zunimmt. Ihre Freunde am Golf werden hartnäckig damit fortfahren, sie zu unterstützen. Dank ihrer ideologisch abgestützten Disziplin, die man auch Fanatismus nennen kann, werden sie selbst aktionsfähig und aktionswillig bleiben, solange sie überleben. Ihre Formationen haben gute Chancen, die letzten zu sein, die noch im Feld stehen werden, wenn alle anderen demoralisiert sind, verzweifeln und müde werden. Wahrscheinlich bilden sie bereits heute eine dermassen wichtige Kompente des Gesamtwiderstandes, dass dieser nicht auf sie verzichten kann.
Ein Mittelweg?
Daher stellt sich für Washington die Frage: Wie wäre es möglich, einerseits die Islamistenkämpfer zu bremsen, aber andrerseits den Kampf gegen das Asad Regime möglichst entschieden zu einem erfolgreichen Ende zu führen?
Die nicht-islamistischen Kämpfer und syrischen Exilpolitiker haben eine Antwort: Natürlich, indem ihr uns mit den schweren Waffen unterstützt, die kriegsentscheidend sein werden!
Doch Washington zögert. Es droht die Gefahr eines neuen Afghanistan. Dort wurden die Kämpfer gegen die Sowjetunion von den USA bewaffnet ohne Rücksicht auf ihre islamistische Ideologie, denn diese galt damals noch nicht als besonders gefährlich. Diese Politik führte zwar zur Niederlage der Russen, aber in der Folge dann auch zu zähen Machtkämpfen im Inneren des Landes unter den verschiedenen afghanischen Kampfgruppen. Sie dauerten von 1988 bis 1996. Schlussendlich gingen daraus die Taleban als Sieger hervor. Sie waren 1994 von Pakistan lanciert und von Washington zusammen mit Saudi-Arabien finanziert worden.
Die Verlockungen der russischen Diplomatie
Die russische Diplomatie wirkt zugunsten des Asad-Regimes, indem sie immer wieder andeutet, dass auch Moskau Gespräche unter Syrern begünstige und für eine «Verhandlungslösung» des Krieges einträte. Dies fördert die Hoffnung in Washington, dass Russland am Ende doch noch die Hand zu einer Beendigung des Ringens unter der Führung der Uno bieten könnte. Diese Hoffnung wiederum verstärkt die Abneigung Washingtons, das Gewicht Amerikas voll auf Seiten der Rebellen zum Einsatz zu bringen. Denn dann wären die Aussichten auf eine Verhandlungslösung endültig vorbei.
Allerdings muss man fragen: sind die Russen wirklich bereit, eine Lösung zu finden, die den Volksaufstand in Syrien beenden könnte? Oder zielen sie darauf ab, Asad und seine Sicherheitsleute, in einer Position zu belassen, aus welcher sie die angestrebten «Verhandlungen unter Syrern» nach ihrem Befinden und mit ihren zur genüge bekannten Methoden zu steuern vermögen?