Die Amerikanerin Nicole Eisenman (*1965) schildert in drastisch-realistischen Bildern heutige gesellschaftliche Bruchstellen. Im Kunsthaus Aarau ist ihrem Werk zu begegnen – in Konfrontation mit Kunstwerken vergangener Jahrzehnte.
Nicole Eisenmans Bild „T. B. T. Headed Down River“, 2018 gemalt: Der Himmel, an dem schwarze Sonnen stehen, ist blutrot, der Baum rechts ist endzeitlich kahl. Der Fluss ist giftig gelb. Auf ihm treibt ein Boot direkt auf die Stromschnelle zu. Die Gestalt, die unter dem am Bug hochaufragenden Rohr sitzt, scheint lädiert: Ihr Kopf ist bandagiert, der Arm in der Schlinge. Hinter dieser Figur liegt, unter der durchlöcherten Zeltblache, eine zweite Gestalt. Sie ist weiss. Ein Arm und ein Bein hängen schlaff über den Bootsrand. Vom Gesicht sehen wir nur die Nasenspitze. Der oder die da liegt, könnte tot sein. Mehr wissen wir nicht. Nicole Eisenmann überlässt es uns, unseren Reim zu machen und zu raten, was da geschieht. Die Richtung gibt sie vor: Da ist nichts Gutes. Eine Katastrophe bahnt sich an – oder ist bereits geschehen.
Ein anderes, in dunklen Farben gehaltenes Bild von Nicole Eisenman, «A Couple», zeigt einen Mann und eine Frau. Sie hocken auf einem braungrünen Haufen. Der Mann spielt Tuba. Haltung und Mimik erwecken nicht den Eindruck, als würde er dem grellgelben Instrument Wohlklingendes entlocken. Die Frau, apathisch wie der Mann, hält auf den Knien einen Kartoffelsack, der aufgesprungen ist, sodass die Kartoffeln auf den Boden kollern. Auch da ist nichts Gutes. Die Stimmung im Keller ist trist. Mann und Frau haben sich nichts zu sagen und sind in ihre je eigene Welt vertieft.
Vorwiegend dunkler Befund
Nicht dass Nicole Eisenman in allen Bildern – teils riesige Ölmalereien, daneben Kleinformate, aber auch Zeichnungen – nur Tristes zeigen würde. Es gibt auch Zärtlichkeit, Erotik, Humorvolles, eine Art Karikatur, heitere Strandstimmung und Sonnenschein. Die Abwechslung ist gross, doch der generelle Befund der Künstlerin, die in ihrem Werk vor allem gesellschaftliche und individuelle Brüche blosslegt, ist, bei aller Buntheit und ungestümen Erzählfreude, vorwiegend dunkel. Die Künstlerin rückt mit Ihrer drastisch-direkten, überbordenden und mitunter grotesken Bildsprache vor allem ungeklärte Identitätsfragen, Spannungen, Aggressionen, harte Gewaltanwendung und Geschlechterkämpfe ins Rampenlicht ihres Welttheaters.
Nicole Eisenman geht offensichtlich spontan und unbekümmert ans Werk. Ihre Emotionen hält sie nicht zurück, und sie mischt sich vehement ein in aktuelle gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen wie Gender- und Identitäts-Debatten. Unbekümmert ist auch ihr Umgang mit der Kunst früherer Künstler: Sie zitiert Picasso und Ensor und spielt mit Werk und Person van Goghs, mit Renoir oder Expressionismus bis hin zu Neusachlichem. Mit ihrer Bildsprache fand sie bald Eingang in den internationalen Ausstellungsbetrieb, hatte Retrospektiven hier und dort (2007 auch in der Zürcher Kunsthalle), zeigte ihre Malereien zweimal der Biennale Venedig und wurde 2017 zur Skulpturenschau in Münster eingeladen, wo sie mit «Sketch for a Fountain», einer vielfigurigen Aussenskulptur, für Aufsehen sorgte und eine Debatte lostrat, die in eine Bürgerinitiative zur Rettung ihrer Arbeit mündete.
Dialog mit Werken aus den Sammlungen
Die Ausstellung im Aargauer Kunsthaus in Aarau gibt in rund 70 Werken einen Überblick über das Schaffen von Nicole Eisenmann, das bis jetzt in der Schweiz noch kaum sehr hohe Beachtung fand; doch will die Schau nicht als Retrospektive verstanden sein. Sie greift weiter aus. Die Gemeinschaftsproduktion von vier Häusern – neben Aarau sind es die Kunsthalle Bielefeld, die Fondation Vincent van Gogh in Arles und das Kunstmuseum Den Haag – bettet das Werk Eisenmans ein in einen von den jeweiligen Sammlungen bestimmten Kontext der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Kuratorinnen und Kuratoren (für Aarau Katharina Ammann, für Arles Bice Curiger, für Den Haag Daniel Koep, für Bielefeld Christina Végh) suchten in den Depots ihrer Museen nach Werken, die sie mit Eisenman in einen Dialog treten lassen. Primäres Ziel war es nicht, grosse Namen zu präsentieren. Es gibt sie auch, etwa Beckmann oder Picasso und Ensor, doch wichtiger ist: Es sollen Dinge ans Licht geholt werden, die vor allem in den Einzugsgebieten der je anderen Häuser unbekannt sind. Wer in Arles zum Beispiel kennt schon die Aargauer Karl Ballmer oder Wilhelm Schmid, wer in Aarau die Deutschen Gerd Arntz oder Hermann Stenner?
Ein Beispiel bewusst inszenierter Gegenüberstellung: Eisenmans «Northern California Potter Woman» (2015), das bis zum Ornamentalen abstrahierende und in bunten Farben erstrahlende Bild einer Frau, die mit roten Händen in den Lehm greift, trifft auf Max von Moos’ «Die Sünde (Schlangenzauber)» von 1930. Diese Konfrontation führt zu fruchtbaren Reibungen und Spannungen und kann das Sehen beider Werke bereichern. Ähnliches gilt von Eisenmans «Night Studio» (2009) und Max Beckmanns «Mutter mit spielendem Kind» (1946). Bei aller Verschiedenheit widmen sich beide Werke wesentlichen aktuellen wie auch überzeitlichen Themen wie körperlicher und emotionaler Nähe, Intimität und Vertrautheit.
«Irgendwie»
Oft mag sich in der Gegenüberstellung ein kaum bekanntes Werk der «Provinz» in Qualität und Überzeugungskraft dem heutigen «Star» Nicole Eisenman ebenbürtig oder überlegen erweisen. Auf der anderen Seite wirkt dieser oder jener Blick auf die Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch wenig verbindlich oder austauschbar. Vielleicht war das den Kuratoren bewusst. In einem im Katalog abgedruckten Gespräch, das verschiedene Fachleuten zum Ausstellungskonzept führten, sagt Bice Curiger zu Emil Noldes 1920 entstandenem kleinen Porträt «Rentner»: «Könnte der irgendwie auch von Nicole sein?». «Irgendwie»? Aus diesem Wort spricht eher ein spontan-zufälliges Gefühl als ein streng durchdachtes und klares Konzept.
Unklar bleibt auch, was mit dem Titel der Ausstellung «Nicole Eisenman und die Modernen» gemeint ist. Bewusst ist in diesem Titel nicht von der «Moderne» die Rede, sondern von den «Modernen». Wer sind sie – «die Modernen»? Deutlich wird das nicht. Wilhelm Schmids «Aargauer Metzgete» von 1940 zum Beispiel lebt, bei aller realistischen Expressivität, eher von der Atmosphäre der Geistigen Landesverteidigung. Und bei aller Wertschätzung der hohen Bedeutung von Félix Vallotton: Als «modern» wird sein Gemälde «Buste à l’armoire» (1910) kaum durchgehen, auch wenn es in einen spannenden Dialog mit einem Porträt Eisenmans treten mag. Ähnliches gilt vom «Kopf in Rot» des der Anthroposophie nahestehenden Karl Ballmer, dessen unverwechselbares Werk in keinerlei Schublade passen will, auch nicht jene des «Modernen».
Ob die Kuratorinnen und Kuratoren mit solchen Unklarheiten, wie sie auch in Bice Curigers Begriff «irgendwie» aufscheinen, das Denken der Besucherinnen und Besucher in Gang setzen möchten? Oder ist die zugegebenermassen griffige Titelgebung – im Untertitel lesen wir: «Köpfe, Küsse, Kämpfe» – schlicht Marketing? Da steht eben oft und ganz bewusst nicht Genauigkeit im Fokus.
Katalog 45 Franken
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 24. April.