Die feuchtfröhliche Runde, die auf der Terrasse einer kleinen Familienpension ausserhalb der nordostbrasilianischen Stadt Recife bei Caipirinhas und Bier zusammensitzt, ist sich einig: Brasilien wird Fussball-Weltmeister. Die Zuversicht kommt nicht von ungefähr. Die Brasilianer haben schon fünfmal den Königspokal gewonnen, öfter als jede andere Nation, und diesmal geht die Copa do Mundo auch noch im eigenen Land über die Bühne.
Verzögerungen und Versäumnisse
Wenn das keine Steilvorlage ist! Der schüchterne Einwand des Gringos aus Europa, dass möglicherweise a Suíça zum Spielverderber werden könnte, erntet nur ein mitleidiges Lächeln.
Die nicht bloss an Biertischen, sondern auch bis in hohe Regierungskreise hinauf demonstrierte Vorfreude kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein halbes Jahr vor dem Anpfiff rund um die WM noch vieles im Argen liegt. Fussballerisch scheint das Land auf das sportliche Grossereigniss gut vorbereitet zu sein. Neben dem Brasilien der begnadeten Dribbelkünstler und der leidenschaftlichen Fans gibt es aber auch noch das Brasilien der Infrastrukturdefizite. Und viele dieser Lücken lassen sich in den verbleibenden paar Monaten nicht mehr oder bestenfalls teilweise schliessen.
Zu viel Zeitdruck – zu wenig Sicherheit
Viel zu reden gaben in den vergangenen Wochen die Verzögerungen beim Bau beziehungsweise Umbau der zwölf WM-Stadien. Damit doch noch alle Austragungsstätten rechtzeitig fertig werden, müssen die Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter künftig unter noch mehr Zeitdruck schuften. Die Arbeitsbedingungen waren schon bisher schlecht, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen bezichtigen die Bauunternehmen immer wieder der Ausbeutung. „Forderungen wie existenzsichernde Löhne, anständige Unterkunft und Verpflegung sowie Krankenversicherung der Arbeiter und ihrer Familien blieben unerfüllt“, stellte das Hilfswerk Solidar Suisse in einem umfangreichen Dossier zur WM fest.
Bis heute sind auf Baustellen sechs Arbeiter tödlich verunglückt. „Die Sicherheitsvorkehren werden wegen des Termindrucks teilweise vernachlässigt“, kritisierte Gewerkschaftschef Cícero Custódio, nachdem beim letzten Unfall kurz vor Weihnachten in der Arena da Amazônia in Manaus ein 22-jähriger Mann aus 35 Metern abgestürzt und wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen war. „Seit langem warnen wir vor den schlechten Arbeitsbedingungen im Stadion und dem grossen Risiko vor allem bei der Nachtarbeit, aber die Verantwortlichen ignorieren uns.“
Unschlagbar, aber nicht unfehlbar
Wie bei jeder Fussball-WM wird es mit den Stadien am Schluss auch in Brasilien doch noch klappen. Weit weniger sicher ist, dass die Flughäfen dem zu erwartenden Besucherstrom gewachsen sein werden, die Zubringerdienste zu den Stadien funktionieren, und die Hotellerie einen anständigen Service bieten kann und will und nicht nur gnadenlos abkassieren wird.
Staatschefin Dilma Rousseff scheinen da keine Zweifel zu plagen. Bei der Einweihung der Arena Fonte Nova in Salvador da Bahia sagte sie „Unser Land ist bekannt dafür, auf dem Fussballfeld unschlagbar zu sein, jetzt beweisen wir, dass wir dies auch ausserhalb des Feldes sind.“ Ihr Pech: In wenigen Metern Entfernung prangte auf einer Tafel an der Aussenwand des Stadions in Riesenlettern: „Saída – entrace“ – vorbildlich zweisprachig, aber auch mit zwei Fehlern. Der Gestalter des Hinweisschildes hat aus dem portugiesischen Eingang (saída) einen englischen Ausgang (entrance) gemacht und dabei auch noch ein „n“ vergessen.
Nicht allen geht der Fussball über alles
Auch wenn die Fussballeuphorie wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt so gross ist wie in Brasilien: Auch im Lande von Pelé, Ronaldo und Neymar freuen sich bei weitem nicht alle auf die WM. Die Kritiker stossen sich daran, dass der Staat Riesensummen – schätzungsweise 15 Milliarden Franken – in ein Unternehmen investiert, von dem die überwältigende Mehrheit des Volkes wenig bis gar nicht profitiert, während der Weltfussballverband (Fifa) auch an dieser WM wieder kräftig absahnen wird.
Dieses Geld, so argumentieren die WM-Gegner, hätte viel sinnvoller zur Sanierung des maroden Gesundheitssystems, für Bildungsreformen, der Allgemeinheit dienende Infrastrukturprojekte, Umweltschutzmassnahmen, die Modernisierung des verkrusteten Verwaltungsapparats und die langfristige Sicherung von Arbeitsplätzen ausgegeben werden können.
Schrille Nebentöne an der Hauptprobe
Die Wut vieler Brasilianer über die Geldverschwendung der öffentlichen Hand entlud sich im vergangenen Juni während des Confederations Cup, der WM-Hauptprobe, in zahlreichen Massenkundgebungen, bei denen es zu teilweise heftigen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften kam. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass an der WM neue Protestaktionen stattfinden werden.
Umsiedlungen und Zwangsräumungen
In- und ausländische Menschenrechtsorganisationen kritisieren auch seit Jahren, dass im Vorfeld der Fussball-WM und des anderen bevorstehenden sportlichen Grossereignisses, der olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro, tausende Menschen umgesiedelt werden, zuweilen auch mit Polizeigewalt wie beispielsweise der Stadtteil Pinheirinho von São Paulo. Die Zwangsumsiedlungen und Räumungen verstiessen teilweise gegen die Menschenrechtsstandards, warnte Raquel Rolnik, die Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen, am Tag vor dem Beginn des Confederations Cup.
Laut Angaben lokaler Basiskomitees wurden bereits rund 250 000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben oder sind von Räumungen bedroht. Den Familien werden zwar im Gegenzug Wohnungen angeboten, die aber oft weit vom alten Wohnort und auch von ihrem Arbeitsplatz entfernt sind. In der Regel gibt es in der neuen Umgebung kaum Schulen oder eine auch nur einigermassen ausreichende Gesundheitsversorgung.
Noch bleibt der brasilianischen Regierung Zeit und Geld, gewisse Fehlentwicklungen rund um die WM mindestens ansatzweise zu korrigieren. Gelingt ihr das nicht, könnte Brasilien am Ende zwar als Weltmeister, aber nichtsdestotrotz als Verlierer dastehen.