Trotz Demonstrationsverbots haben an diesem Wochenende wieder Zehntausende von Bürgern in Belarus (Weissrussland) gegen das Lukaschenko-Regime protestiert. Videofilme im Internet zeigen, wie schwarz vermummte Sicherheitskräfte Demonstrierende in Minsk – unter ihnen viele Frauen – in schwarze Polizeitransporter zerren. Nach Agenturberichten sind am Sonntag mindestens 125 Demonstranten festgenommen worden. Die Protestbewegung verlangt den Rücktritt des Langzeitherrschers Lukaschenko und die Durchführung von Neuwahlen.
Gratulation zum Geburtstag
Der russische Präsident Putin hat am Sonntag laut Medienberichten mit Lukaschenko telefoniert und ihm zu dessen Geburtstag gratuliert. Dabei wurde auch vereinbart, dass der inzwischen angeschlagene belarussische Machthaber diese Woche zu Gesprächen in Moskau empfangen wird. Das lässt sich als ein Signal dafür interpretieren, dass Putin offenbar entschlossen ist, seinem Kollegen in Minsk den Rücken zu stärken.
Die Nachbarländer Belarus und Russland, die beide aus der Konkursmasse des Sowjetimperiums hervorgegangen sind, sind wirtschaftlich, kulturell, sprachlich und mentalitätsmässig eng miteinander verzahnt – was nicht bedeutet, dass Moskau und Minsk politisch durchwegs am gleichen Strick gezogen hätten. Doch es besteht kaum ein Zweifel, dass Lukaschenkos politische Überlebenschancen wesentlich vom Verhalten Moskaus abhängen.
Putin hat übrigens schon in der vergangenen Woche in einem längeren Fernsehinterview erkennen lassen, dass er die Massenproteste im westlichen Nachbarland sehr genau beobachtet. Er äusserte dabei zunächst die Hoffnung, dass die dortigen Probleme friedlich gelöst werden könnten. Putin erwähnte auch die von Lukaschenko ins Spiel gebrachte Anregung, zuerst die belarussische Verfassung zu ändern und erst dann neue Präsidentschaftswahlen durchzuführen – die Anfang August durchgeführte Wahl ist nach Ansicht der Protestbewegung eklatant gefälscht worden. Auf die Forderung der belarussischen Opposition nach einem Dialog mit dem Lukaschenko-Regime ging der Kremlchef aber nicht ein.
Russische Sicherheitskräfte für Lukaschenko?
Dagegen sprach Putin erstmals direkt von der Möglichkeit eines Eingreifens russischer Sicherheitskräfte in Belarus. Dazu sei Russland aufgrund des bilateralen Unionsvertrages (der vor rund 25 Jahren unterzeichnet, aber nie mehr als halbherzige Realität wurde) verpflichtet, falls die innere Stabilität in diesem Land gefährdet sei. Auf Bitten Lukaschenkos, erklärte Putin weiter, habe er deshalb Reserve-Einheiten der russischen Sicherheitskräfte bereitgestellt, die zum Einsatz kommen könnten, wenn die Situation im Nachbarland ausser Kontrolle geraten sollte.
Diese Ausführungen des Kremlchefs sind bei der Opposition im Nachbarland begreiflicherweise nicht gut angekommen. Einer unter ihren Vertretern, der Aktivist Dmitri Bondarenko, hat dazu in der regierungskritischen russischen Zeitung «Nowaja Gaseta» (bei der bis zu ihrer Ermordung 2006 auch die dissidente Journalistin Anna Politkowskaja tätig war) einen Kommentar publiziert mit dem Titel «Nicht nervös werden – eine Antwort an Wladimir Putin».
Einverständnis und Ablehnung
Er sei mit Putin absolut einverstanden, schreibt Bodarenko, dass Russland und Belarus durch zahlreiche persönliche und familiäre Beziehungen verbunden seien. Seine eigene Frau, mit der er seit 36 Jahren verheiratet sei, sei in Russland geboren und aufgewachsen. Er stimme auch mit Putin darin überein, dass ihre beiden Länder durch wirtschaftliche Verbindungen eng miteinander verknüpft seien. Deshalb sei er auch der Meinung, dass ein neuer belarussischer Präsident, wer immer das sein möge, bei seinem ersten Besuch im Ausland nach Moskau reisen sollte. Russland sei nun einmal der wichtigste Markt für Belarus und niemand wolle das unterbinden.
Hingegen sei er überrascht und befremdet, argumentiert Bondarenko in seinem Kommentar, dass Putin jetzt erkläre, dass Russland möglicherweise eigene Sicherheitskräfte nach Belarus entsenden könnte. Eine solche Aussage bedeute eine offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus. Sollte ein solcher Schritt erfolgen, würde das schwere internationale Konsequenzen für Russland zur Folge haben.
Das «partisanische Gen» der Belarussen
Er könne nicht verstehen, dass Putin im Nachbarland einen Diktator unterstützen wolle, der die Präsidentschaftswahl haushoch verloren habe und sein Volk mit brutaler Repression unterdrücke. Wenn man in Moskau daran denke, russische Polizeitruppen nach Belarus zu schicken, sollte Putin dabei nicht vergessen, dass das «partisanische Gen» unter den Belarussen sehr lebendig sei. Belarus sei zwar ein flaches Land, aber zwei Drittel seines Territoriums erstreckten sich auf Wälder und Sümpfe. Ausserdem grenze Belarus nicht nur an Russland, sondern auch an andere Länder, die mit der Nato verbunden seien (gemeint sind damit wohl Polen, Litauen und Lettland).
Mit der Bemerkung über das «partisanische Gen» spielt der belarussische Oppositionelle offenkundig auf die zahlreichen Partisanenverbände an, die im Zweiten Weltkrieg gegen die eingedrungenen Hitler-Armeen gekämpft haben.
Der Abfall der Ukraine als Mahnung
Das politisch vielleicht stärkste Argument gegen ein Eingreifen russischer Truppen in Belarus bringt der Lukaschenko-Gegner Bondarenko erst am Schluss seines Kommentars zur Sprache. In Moskau sollte man sich Gedanken machen, schreibt er, wie man die «guten und brüderlichen Beziehungen» zwischen ihren beiden Ländern weiter pflegen und bewahren könne – und nicht, wie man sie zerstören würde, wie das mit der Ukraine geschehen sei.
Vor allem diese letzte Mahnung sollte Putin sich zu Herzen nehmen, wenn es ihm wirklich um die Sicherung von Russlands langfristigen Interessen geht.