„Töte nicht den Boten!“ Der Aufruf wird dem griechischen Tragödiendichter Sophokles zugschrieben. Fast 2500 Jahre sind seither vergangen. Geköpft wird zwar nicht mehr, aber schuldig gemacht. Nur so ist die Reaktion des St. Galler Bildungsdirektors Stefan Kölliker zu erklären. Er will das inakzeptable Deutsch-Ergebnis der Pisa-Studie 2015 nicht anerkennen und macht den Boten oder eben die Testanlage für die schlechten Resultate verantwortlich.
Hoher Analphabeten-Anteil
Die Realität wäre schon lange die verlässlichste Kritikerin der Schweizer Bildungs- und Sprachenpolitik. Mit schönen Worten lässt sie sich nicht mehr zurechtbiegen: 20 Prozent der Schweizer Schulabgänger sind nach neun Unterrichtsjahren funktionale Analphabeten. Sie können kaum einen einfachen Text lesen und verstehen.
Dass jeder Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse und damit als Illiterat verlässt, ist schlicht ein „Systemversagen“, wie es der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Stefan C. Wolter, ernüchtert auf den Punkt bringt – und beifügt: „Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse [nur] unzureichend schreiben und lesen.“
Ein Ding richtig können
Die Bildungspraktiker wissen es längst: Um die deutsche Sprache ist es schlecht bestellt. Sie beklagen die Fülle der Fächer und als Folge die fehlende Übungszeit.
Die Schule hat viele Aufgaben übernommen, sehr viele, vermutlich zu viele. Sie muss integrieren und individualisieren, sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren, die deutsche Standardsprache in allen Fächern schulen und mathematische Fähigkeiten entwickeln. Sie soll in Themen von Mensch und Umwelt einführen, Musisches und Kreatives fördern, ethisches Verhalten stärken und die Kinder zur Freude an der Bewegung ermutigen. Und überdies das Lernen lehren. Dazu noch manches mehr. Alles ist irgendwie wichtig geworden.
Doch alles ist bekanntlich der Feind von etwas. Ein Ding richtig können ist eben mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf Goethe zurück. Gültig ist er noch heute.
Fremdsprachen im alleinigen EDK-Fokus
Dass darunter auch die Erstsprache Deutsch leidet, verwundert nicht. Doch seltsam: Kaum ein Bildungsdirektor kümmerte sich bislang um dieses Kernfach. Wie wenn es Nebensache wäre, sozusagen Quantité négligeable. Im Gegenteil: Die EDK fixierte sich auf zwei Fremdsprachen in der Primarschule – mit einer Obsession, als wäre die ganze Schule damit gerettet und alles im Lot.
„Man darf die Kinder nicht überfordern mit Sprachen“, gibt der Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, der Basler Christoph Eymann nun plötzlich zu bedenken (NZZ am Sonntag, 11.12.2016). Doch gleichzeitig verteidigt er die zwei Fremdsprachen. Widersprüchlicher geht es nicht. Was gilt nun? Dabei sprechen die Fakten auch hier eine deutliche Sprache, wie eine repräsentative Studie von 2016 in der Zentralschweiz zeigt. Sie schockiert. Nur jeder dreissigste Achtklässler spricht lehrplangerecht Französisch, nicht einmal jeder zehnte erreicht die Ziele im Hörverstehen. Etwas besser, aber immer noch unbefriedigend, sehen die Resultate beim Lesen und Schreiben aus. Untersucht wurden 3'700 Schüler der 6. und 8. Klasse.*)
Teures Bildungssystem mit gravierenden Defiziten
Auch wenn die diesjährigen Pisa-Daten da und dort reflexartig in Zweifel gezogen werden, Fakt bleibt: Bereits 2012 wies die Schweiz einen Analphabeten-Anteil von 14 Prozent aus. Auf einen ähnlichen Befund kommt in ihren Studien auch die renommierte Lehr- und Lernforscherin der ETH Zürich, die Professorin Elsbeth Stern. Seit langem weist sie auf diese empfindliche Schwachstelle unseres Bildungssystems hin.
Wenn 14 oder 20 Prozent, also jeder siebte oder jeder fünfte Schüler nach dem Schulobligatorium kaum lesen und schreiben kann, darf uns das nicht egal sein. Es ist vielmehr inakzeptabel für ein Land, das sich innerhalb der OECD nach Luxemburg das zweitteuerste Bildungssystem leistet.
Keine vorschnellen Rezepte
Rezepte sind schnell zur Hand. So verlangt ein Bildungsexperte des Schweizer Lehrerverbandes, dass Kinder mit Migrationshintergrund künftig in ihrer Muttersprache statt in Französisch unterrichtet werden. Wie wenn das Problem damit gelöst wäre.
Nicht auf der operativen Stufe ist zu suchen. Gefragt sind prinzipielle Überlegungen auf der strategischen Ebene: Stimmt das Sprachenkonzept mit zwei Fremdsprachen in der Primarstufe? Bräuchte es nicht ein konsequentes „Back to basics“? Und wie steht es um die dringend notwendige Zeit zum Üben, Üben, Üben? Kritisch zu hinterfragen ist auch der Primat des selbstorientierten Lernens SOL, wie ihn der Lehrplan 21 ultimativ fordert. Benachteiligt diese dominante Unterrichts- und Lernform schwächere Schülerinnen und Schüler, wie dies verschiedene Bildungswissenschaftler nachweisen? Und unvoreingenommen zu überprüfen ist in erster Linie die neue Rolle der Lehrperson als Lern-Coach und Lernbegleiterin.
Bitte die Fakten nicht verdrängen
Wir leben in postfaktischen Zeiten. So mindestens sagt es das Wort des Jahres 2016. Fakten fördert auch die Pisa-Studie zutage. Sie wegwischen wirkt wenig professionell. Und für die Resultate die Testbedingungen verantwortlich zu machen ist dürftig. Pflichtbewusste Bildungspolitiker nehmen die Tatsachen zur Kenntnis, analysieren sie nüchtern und handeln. Zum Wohl der jungen Menschen und ihrer Zukunft. Das ist das Gebot der Stunde.
*) Nicht dabei war der Kanton Zug. Doch auch hier sind die Resultate nicht zufriedenstellend, wenn auch leicht günstiger. Die Schüler haben bis zum achten Unterrichtsjahr insgesamt zwei Wochenlektionen mehr Französisch als in den Zentralschweizer Nachbarkantonen. Dennoch erreicht eine deutliche Mehrheit der Zuger Schülerinnen und Schüler die Lehrplanziele nicht.