Ein Ton, ein Akkord. Rein, ruhig, fast sakral. Eine Pause. Die Stille atmet, verstärkt das Gehörte, trägt es weiter. Das Nachhören und das Nachsinnen werden Bestandteile der Rezeption.
Maurizio Pollini spielt das Klavierstück VII von Karlheinz Stockhausen am Lucerne Festival. Im ausverkauften Konzertsaal hätte man eine Nadel fallen gehört. Das Publikum ist fasziniert und gefesselt. Und dies, obwohl viele wohl nicht zu Stockhausen gekommen wären. Die nachfolgenden Beethoven Sonaten waren der Driver.
Ein Glücksfall
Pollini gelingt mit seinen ‚Pollini Perspectives’, was Heinz Spoerli auf dem Gebiet des Balletts gelungen ist. Durch die Vermischung von gern Gehörtem und überraschend Neuem wird so manchem das Neue näher gebracht. Auf diese Weise wird ein Publikumssegment erreicht, das sich sonst diesem Neuen verschlösse.
Mark Sattler, am Lucerne Festival für die Moderne zuständig, sieht noch einen anderen Grund für die Akzeptanz: "Das Publikum bekommt das Neue durch Pollini in der höchstmöglichen Qualität zu hören. Ein Glücksfall."
In vier Konzerten präsentiert Meisterpianist Maurizio Pollini in chronologischer Folge Beethovens Klaviersonaten op. 53 bis op.111, kombiniert mit zeitgenössischer Musik von Karlheinz Stockhausen, sowie den noch lebenden Giacomo Manzoni, Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann, die dazu vom Lucerne Festival mit neuen Kompositionen beauftragt wurden.
Pollini, der geniale Zauderer spielt die Stücke nicht nur, er lebt sie. Seine sehnigen Pianistenfinger berühren behutsam, doch dezidiert, die Tasten. Er sitzt nach vorne gebeugt, das Gesicht angespannt, hochkonzentriert, die Augen geschlossen. Da, ein zusätzlicher Ton: Der scheue distinguierte ältere Herr summt begeistert mit bei den Beethovensonaten. Pollini: "Als Interpret muss ich ein Werk verinnerlichen, ich muss es in mir tragen, es verarbeiten. Erst dann kann ich es spielen oder aufnehmen."
Den Zeitgeist hören
Sein Leben lang hat sich Pollini mit Beethoven beschäftigt. Daneben aber spielte die zeitgenössische Musik eine grosse Rolle. Zusammen mit dem Dirigenten Claudio Abbado und dem Komponisten Luigi Nono bildete er eine Art Trio, das sich schon früh der Verbreitung der zeitgenössischen Musik verschrieben hat. Sie wollten den "Zeitgeist hören" und verlangten, dass die Musik mit der Zeit korrespondiere.
Das Hören der zeitgenössischen Musik schärft die Ohren und beansprucht die Konzentration. So werden nach Stockhausen, dessen Klavierstücke Pollini als Ausdruckskunst empfindet, die nachfolgenden Beethovensonaten vom Publikum anders, differenzierter, rezipiert. Entsprechend den Intentionen des Trios Pollini, Abbado und Nono vermitteln sie eine Art "existentieller Erfahrung" und "Weltspiegelung". Diese Drei sehen die Musik immer als politischen Kommentar und humanistische Botschaft.
Sechs neue Anschlagformen
Ein anderer Aspekt dieser Konzerte ist die Musikgeschichte. Beethoven hat innerhalb dieser Sonaten eine kompositorische Entwicklung gemacht. Das gilt natürlich auch für Stockhausen. Er bemerkt: "Trotz oder gerade wegen der grossen Bedeutung der Klangfarbenkomposition in meiner elektronischen Musik, in den Orchester-und Vokalwerken, habe ich mich von Zeit zu Zeit auf Klavierstücke konzentriert, auf die Komposition für ein Instrument, für zehn Finger, mit minutiösen Nuancen der Klangfarben und Strukturen. Sie sind meine Zeichnungen."
Und weiter: "Ich fand sechs neue ‚Anschlagsformen’, die die Einschwingvorgänge des Klavierklanges differenzierten.... Ich definierte neue Zeichen für diese Anschlagsformen...Ausserdem komponierte ich nicht mehr einzelne Töne und Akkorde, sondern Klänge mit charakteristischen ‚Innenstrukturen’. Die sogenannten ‚kleinen Noten’ wurden sehr zahlreich und in verschieden dichten Scharen um ‚Kerne’ herum komponiert." Das ist eine differenzierte Höranleitung seiner Klavierstücke.
Die nächsten Abende mit den Pollini Perspektives finden im nächsten Sommer während des Lucerne Festivals statt. Am 13. August 2012 kann man Beethoven in der Kombination mit Helmut Lachenmann und am 30. August 2012 Beethoven mit Salvatore Sciarrino hören. Beide zeitgenössische Komponisten steuern Auftragskompositionen zu diesem Projekt bei.