„Neue Musik“ ist auch nicht das, was man so unter E-Musik versteht, also Mozart, Bach, Beethoven & Co. Das ist Musik, die nicht mehr so klingt, wie sie nach der Vorstellung vieler Menschen klingen sollte.
„Tage für neue Musik“ in Zürich
Manchmal gerät man da auf eine akustische Geisterbahn mit Folterpotenzial. Manchmal fühlt man sich aber auch in die liebliche Atmosphäre eines flirrenden Sommertages versetzt, an dem ein Schmetterling durch zartsäuselnde Lüfte gaukelt. Neue Musik. Ein weites Spektrum.
In Zürich sind soeben die „Tage für Neue Musik“ zu Ende gegangen. Jedes Jahr, wenn es draussen grau und ungemütlich wird, treffen sich Musiker und in etwas geringerer Zahl Musikerinnen aus verschiedenen Ländern, um das aufzuführen, was eben unter „Neuer Musik“ verstanden wird. Dieses Jahr stand vor allem die junge Generation im Blickpunkt.
Und es waren nicht wenige, die an diesen „Tagen für Neue Musik“ sagten, ja, das will ich hören. Sie gingen in die Tonhalle, in die Rote Fabrik und an andere Spielorte. Es sind mehr als im Vorjahr. Tendenz steigend.
Organisierte Schallereignisse
Landläufig gesehen verstehen manche Zuhörer diese Klänge allerdings nicht als „Musik“. Weit gefehlt! Das Lexikon umschreibt den Begriff „Musik“ folgendermassen:
„Musik, also die ‚musische Kunst‘ ist eine Kunstgattung, deren Werke aus organisierten Schallereignissen bestehen“.
Na bitte: so gesehen ist das tatsächlich Musik, was an einschlägigen Festivals, wie soeben in Zürich, an Schallereignissen organisiert wird.
Aber vielleicht doch ein bisschen sperrig? „Ist sie das…? Ich hoffe nicht!“ interveniert da gleich die junge Schweizer Geigerin und Komponistin Stephanie Haensler. „Neu und vielleicht ungewohnt! Doch hat dies viel mit Hörhaltungen und -gewohnheiten zu tun. Oft wird gar nicht erst hingehört aus Angst vor dem Unbekannten. Könnte dies nicht auch einfach spannend sein?“
Doch, ja.
Das fand vor Jahren auch schon der Dirigent Paul Sacher, der zum grossen Förderer Neuer Musik wurde“. „Ich verstehe nicht, warum das Publikum so zögerlich ist, wenn es um Neue Musik geht“, sinnierte er im hohen Alter. „Das ist der Klang unserer Zeit, auf den muss man sich einlassen!“
C-Dur ist aufgebraucht
Marcus Weiss, Saxophonist aus Basel und ein Kenner Neuer Musik, war künstlerischer Leiter der diesjährigen Zürcher „Tage für Neue Musik“. „Die musikalische Sprache hat sich entwickelt“, sagt er. „Als kompositorisches Material ist Mozarts C-Dur wohl aufgebraucht.“ Für ihn war es wichtig, dieses Jahr vor allem junge Leute auf die Bühne zu bringen, die diese neue Musiksprache beherrschen. „Die Interpreten sind heute viel selbstsicherer“, sagt er. „Es gibt eine intensive Szene und man muss sich heute auch nicht mehr rechtfertigen. Das Publikum ist nicht mehr schockiert. Man weiss, was einen erwartet bei Neuer Musik“.
„Unser Leben ist auch eine Kakophonie“
Und trotzdem: warum klingt es oft so schräg und kakophonisch? „Das hat mit unserem Leben zu tun“, so David Zinman, der langjährige, inzwischen zurückgetretene musikalische Leiter der Zürcher Tonhalle. „Unser Leben ist auch eine Kakophonie. Und Musik setzt alle Arten von Gedanken um.“
Die Neue Musik spiegelt also auch unsere mitunter ziemlich in Schieflage geratene Welt. Von Wohlklang scheint da nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Ist Harmonie sozusagen ein no-go in Neuer Musik?
„Die Frage bedarf - glaube ich - noch einer Präzisierung des Begriffes ‚Harmonie‘ “ widerspricht die Komponistin Stephanie Haensler und fragt nun ihrerseits: „Schwingt da die Verbindung zur Tonalität im klassisch-romantischen Sinn mit? Ist Wohlklang an traditionelle Harmonik gekoppelt?“ Dies beantwortet sie gleich selbst mit einem klarem ‚nein‘, „denn alles ist immer kontextgebunden. Für mich und meine Arbeit ist es absolut kein no-go, wenn nötig auch mal ein Intervall wie die Terz zu setzen. Genauso kann ein Geräuschklang meiner Ansicht nach sehr wohlklingend sein! Ich arbeite sowohl mit ‚wirklichen Tönen‘, als auch mit Geräuschmixturen oder ‚Fremdkörpern‘. Ich suche und mische mir mein Material vor jedem Stück neu.“
Mit der Organisation der „Tage für Neue Musik“ erfülle die Stadt Zürich eine ihrer Kernaufgaben im Bereich der zeitgenössischen Musikförderung, sagt René Karlen, Leiter des Ressorts E-Musik in der Kulturabteilung der Stadt Zürich. „Durch Aufträge an Komponistinnen und Komponisten wird zum einen das kreative Musikschaffen unterstützt. Zum andern bereichern die Gastspiele internationaler und nationaler Ensembles nicht nur das hiesige Kulturleben, sondern bieten auch einen Einblick in die aktuellen Musikszenen unterschiedlicher Länder und Regionen.“
Zuhörende Zuhörer
Und nicht zuletzt sollen die verschiedenen Vermittlungsangebote Gelegenheit bieten, Schwellenängste bei Konzerten mit neuer Musik abzubauen und einen Zugang zum Denken und Schaffen von lebenden Künstlerinnen und Künstlern zu erhalten – so wie es jene Dame nach dem Konzert des Tonhalle-Orchesters formulierte: „Ich liebe die Klassiker. Aber ich bin viel neugieriger auf die Musik unserer Zeit, die mich immer wieder herausfordert.“
Was soll denn nun Neue Musik beim Publikum bewirken? Stephanie Haensler hat klare Vorstellungen. „Ich wünsche mir an erster Stelle hin- und zuhörende Zuhörer: Ich möchte mein Publikum ermuntern, neugierig und mit gespitzten Ohren hinzuhören, hellhörig und neugierig etwas an sich herankommen zu lassen.“
Hinhören, sich mit der Neuen Musik auseinandersetzen, das wünscht sich auch Festivalleiter Marcus Weiss. „Es ist ein Fakt, dass es diese Musik einfach gibt. Trotzdem wollen viele Leute Musik einfach konsumieren oder dazu tanzen, aber nicht im Sinne einer ernsthaften Auseinandersetzung.“
Im Zeitalter des omnipräsenten Kopfhörers sei Hören eine Tätigkeit geworden, die vielleicht oft vernachlässigt wird, bedauert auch Stephanie Haensler. Sie ruft stattdessen auf, „mit offenen Ohren (und Augen!) durch die Welt zu gehen, sich etwas Neuem zu öffnen und auszusetzen und daraus eine Be- und Anrührung zuzulassen - in welcher Richtung auch immer.“
Musik vom Reissbrett
Soweit die Seite des Publikums. Macht es aber auch Spass, Neue Musik zu spielen oder sozusagen auf dem Reissbrett zu komponieren? Für Stephanie Haensler ist der Fall klar.
„Ich kenne beides und kann gottseidank beides mit ‚ja‘ beantworten.“ Ob komponierend oder interpretierend: Der Weg zu einem neuen Stück sei immer aufregend, teilweise turbulent, beschwerlich, aber immer herausfordernd, und dies ist für sie entscheidend. „Auf leichte Momente des Gelingens folgen genauso viele (und mehr) Krisen, aus denen im Nachhinein gesehen jedoch immer etwas erfahren und gelernt werden kann“, sagt sie. „Und da gibt es einfach auch grundsätzlich diese grosse Neugier, das ‚Brennen‘ für all jene musikalischen Fragen, denen man sich täglich stellt. Und mit diesen umzugehen, zu leben, daran habe ich Spass!“
Stephanie Haensler weiss, von was sie redet, denn Musik ist für sie ein weites Land, das erobert werden will. Und Alte Musik ist auf ihrer Landkarte ebenfalls vorhanden. Wo ist sie denn nun mehr zuhause?
Alte und Neue Musik
„Schwierig. Beide Gebiete sind Teile meiner Biographie und gehören zu mir. Spannend finde ich, dass Alte und Neue Musik oft sehr nah beieinander liegen. So ist mir z.B. romantische Orchesterliteratur viel ferner und fremder als der ‚stylus phantasticus‘ des 17. Jahrhunderts.“ Deshalb lässt sie in ihrer Arbeit einen Dialog zwischen diesen beiden Musik-Welten stattfinden. „Beispielsweise habe ich ein Stück zu Hildegard von Bingen geschrieben, oder mich in einem anderen Werk auf englische Renaissance-Komponisten bezogen - ein direkter Faden vom einen zum anderen Pol.“
Ein Faden, der vermehrt auch von grossen Institutionen aufgegriffen wird. Die Zürcher Tonhalle unter ihrem neuen, jungen musikalischen Leiter, Lionel Bringuier, will ebenfalls in Zukunft vermehrt auf neue Musik setzen. In seinem Eröffnungskonzert im September präsentierte Bringuier gleich eine zeitgenössische Uraufführung und das Publikum war begeistert. Na also, es geht doch…