Er glaube überhaupt nicht daran, dass Regierungschef Netanyahu es ernst meine mit seinen Beteuerungen, bei den Verhandlungen mit den Palästinensern innerhalb eines Jahres eine umfassende Friedenslösung anzustreben, schrieb dieser Tage Akiva Eldar, der Chefkommentator der linksliberalen israelischen Zeitung „Haaretz“. Sollte Netanyahu allerdings seine pessimistische Prognose widerlegen, dann werde er nicht zögern, den Regierungschef in höchsten Tönen zu loben und laut und deutlich bekennen, dass er sich in Netanyahu getäuscht habe.
Angebliche ideologische Kehrtwende
Ähnlich abschätzig haben sich Netanyahus Aussenminister Lieberman und Sprecher der im Gazastreifen herrschenden Hamas über die Erfolgsaussichten des neuen Verhandlungsanlaufs geäussert – wenn auch aus ganz andern Motiven als der Publizist Eldar. Der aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Hardliner Lieberman und die Hamas-Exponenten sind an Kompromiss-Lösungen überhaupt nicht interessiert. Sie werden sich die Hände reiben, wenn die Verhandlungen scheitern.
Allerdings sind neben dem breiten Chor der negativen Prognosen und dem Gemurmel einer eher desinteressierten Öffentlichkeit auch einzelne Stimmen zu vernehmen, die zum Nachdenken anregen. So hat in dieser Woche der ultraorthodox-nationalistische Kommentator Israel Harel, der normalerweise die Interessen der israelischen Siedlerbewegung verteidigt, mit allem Nachdruck behauptet, Netanyahu habe eine „ideologische Kehrtwendung“ vollzogen und sei nun bereit, die besetzte Westbank – Harel bezeichnet sie, wie alle israelischen Nationalisten, mit den biblischen Namen Judäa und Samaria – für die Schaffung eines palästinensischen Staates aufzugeben.
Bemerkenswert an diesem Kommentar ist der Umstand, dass der Siedler-Exponent Harel mit grossem Respekt von Netanyahus angeblicher Kehrtwende schreibt. Er deutet an, dass dessen Umkehr im höheren Interesse Israels notwendig geworden sei –deshalb sei sie auch vom religiösen Standpunkt aus gerechtfertigt. Könnte das ein Indiz sein, dass unter den Siedler-Ideologen zumindest Teile bereit sind, auf eine Konfrontation mit Netanyahu zu verzichten, falls er sich mit Abbas doch auf einen territorialen Kompromiss verständigen sollte?
Noch eine Aussage hat im Zusammenhang mit den neuen Nahostverhandlungen aufhorchen lassen. Israels Verteidigungsminister Barak erklärte gegenüber dem „Haaretz“-Journalisten Ari Shavit auf die Frage, wie bei diesen Verhandlungen die Jerusalem-Frage gelöst werden könne, die Stadt werde geteilt, die arabisch bewohnten Bezirke würden dem zukünftigen Palästinenser-Staat zugeschlagen, für die Altstadt werde es ein „spezielles Regime geben gemäss vereinbarten Regelungen“. Diese Aussage Baraks ebenso wie diejenige zur territorialen Aufteilung des Westjordanlandes läuft im Kern auf die so genannten „Clinton Parameter“ hinaus – also jene detaillierten territorialen Vorschläge, die der damalige amerikanische Präsident nach dem gescheiterten Camp David Gipfel im Jahr 2000 zu Papier gebracht hatte.
Mitchells Erinnerung an Nordirland
Die Erklärung Baraks zu Jerusalem widerspricht klar der offiziellen Haltung Netanyahus, der eine Teilung der Stadt bisher weit von sich weist. Der britische „Economist“ stellt dazu die interessante Frage, ob Barak hier nur formuliere, was Netanyahu aus Rücksicht auf seine Gefolgschaft vorläufig nicht auszusprechen wage, aber vielleicht im Laufe der Verhandlungen dann doch einzuräumen bereit sei.
Präsident Obamas Nahost-Vermittler George Mitchell hat laut einem Bericht in der „New York Times“ auf einen andern Punkt hingewiesen, der ihn veranlasse, die Hoffnung auf eine Einigung nicht aufzugeben. Netanyahu, so soll Mitchell bei einem Treffen mit palästinensischen Führungsleuten erklärt haben, beginne wohl an seine politische Erbschaft zu denken, das heisst an seinen zukünftigen Platz in den Geschichtsbüchern. Vielleicht führt ihn solches Nachdenken zur Einsicht, dass er nur in Form einer Fussnote als klein karierter Machtmanipulator und Demagoge in der Geschichtsanalen vorkommen wird, wenn er nicht den Mut findet, sich zu jenen territorialen Entscheidungen für eine Zweistaaten-Lösung im historischen Palästina durchzuringen, die Israel früher oder später akzeptieren muss, wenn es seine Zukunft nicht akut gefährden will.
Mitchell soll bei seiner Bemerkung an das Beispiel des extremistischen Protestantenführers Ian Paisley in Nordirland erinnert haben. Paisley, jahrzehntelang ein unversöhnlicher Katholiken-Fresser, habe mit 82 Jahren intensiver an sein politisches Vermächtnis zu denken begonnen. Das habe ihn schliesslich zur Änderung seiner Haltung bewogen und ihn zu einer Schlüsselfigur beim Friedenabkommen über Nordirland gemacht. Mitchell weiss, wovon er spricht. Er spielte damals als amerikanischer Vermittler ebenfalls eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen über Nordirland.
Vielleicht hat Mitchell den Hinweis auf den Mantel der Geschichte nicht ganz zufällig im Gespräch mit palästinensischen Führungsfiguren fallen lassen. Auch Präsident Abbas träumt möglicherweise davon, eine für die Mehrheit seines Volkes akzeptable Kompromisslösung zu unterschreiben und umzusetzen. Die extremistische Hamas, die Israels Existenzrecht nicht anerkennen will, würde wohl einen solchen Durchbruch reflexartig ablehnen, aber das dürfte ihr erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme bereiten.
Der bisher ziemlich profillose Abbas hingegen könnte wenigstens teilweise aus dem Schatten seines Vorgängers Arafat heraustreten. Dieser hatte mit seiner Weigerung, die Clinton-Parameter konstruktiver für eine Einigung zu nutzen und die zweite Intifada, die nichts als zusätzliches Elend einbrachte, wirksam einzudämmen, seinem Volk zumindest am Ende seiner Herrschaft einen schlechten Dienst geleistet.
Siedlungsstopp als Testfall
Zugegeben, solche Überlegungen sind vage Anhaltspunkte, um die neu angelaufenen Friedensverhandlungen nicht als völlig hoffnungslos abzuschreiben. Und es besteht kaum ein Zweifel, dass Abbas seine Drohung wahr machen wird (oder muss), wenn Netanyahu den vor zehn Monaten nur widerwillig verfügten offiziellen Siedlungsstopp am 26. September aufheben sollte, wie er das seinen ultranationalistischen Koalitionspartnern im Kabinett versprochen hat. Zwar halten das selbst einige liberale Kommentatoren in Israel für eine nebensächliche Frage. Doch es geht dabei um ein fundamentales Glaubwürdigkeitsproblem. Wie kann man, heisst es dazu in einem Leserbrief an die Online-Ausgabe von „Haaretz“, glaubwürdig über die Aufteilung einer Pizza verhandeln, wenn ein Verhandlungsteilnehmer sich diese Pizza laufend einverleibt?
Die Verlängerung des Siedlungsstopps ist zugleich ein Test für Natanyahus Durchsetzungsvermögen: Wie soll man ihm zutrauen, im Falle einer territorialen Einigung mit den Palästinensern Zehntausende von Siedlern zu evakuieren, wenn er es nicht einmal fertig bringt, gegenüber der Siedler-Lobby einen Stopp der – für Israels internationale Glaubwürdigkeit verheerenden – Siedlungsexpansion durchzusetzen?
Bei andern angeblich zentralen Forderungen beider Seiten geht es im Grunde nur um taktische und ideologische Spiegelfechtereien. Netanyahus in den Vordergrund geschobener Anspruch, die palästinensische Seite müsse Israel als „jüdischen Staat“ anerkennen, macht im besten Falle als „Bargaining chip“ einen Sinn, also als Spielgeld im Verhandlungspoker. Israel könnte diese Münze dann eventuell eintauschen gegen den palästinensischen Verzicht auf das so genannte „Rückkehrrecht“.
Beide Forderungen sind unrealistisch – und sie könnten, wie die Clinton-Paramter und der Mustervertrag der so genannten „Genfer Initiative“ zeigen – durchaus auch durch praktische Detailvereinbarungen aufgelöst werden. Ob Netanyahu und Abbas es ernst meinen mit ihrem Bekenntnis zu einem Kompromissfrieden oder ob es sich hauptsächlich um hohle Bluff-Rhetorik handelt, wird man nicht zuletzt an der Behandlung solcher ideologisch überhöhter Scheinprinzipien erkennen.
Endlich klare Grenzen setzen
Von einem wirklichen Durchbruch kann bei den israelisch-israelischen Verhandlungen nur die Rede sein, wenn beide Seiten sich statt auf abstrakte Grundsätze und einen beliebig dehnbaren Zeitplan endlich auf eine genaue und verbindliche Grenzziehung zwischen den beiden Staaten verständigen. Damit würde sich auch die vergiftende Siedlungsfrage weitgehend klären. Beide Seiten sind bisher einer klaren Festlegung in Sachen Grenzziehung ausgewichen – hauptsächlich deshalb, weil sie unter sich selbst bei diesem kardinalen Thema tief zerstritten sind.
Doch bedeutende politische Führer zeichnen sich dadurch aus, dass sie schmerzhafte, aber im höheren nationalen Interesse letztlich unumgängliche Entscheidungen politisch und materiell durchsetzen können. De Gaulle hat bei der Lösung des Algerien-Problems ein Beispiel solcher staatsmännischer Führungskunst demonstriert. Im Nahostkonflikt haben der ermordete ägyptische Präsident Sadat und sein israelischer Verhandlungspartner Begin solche Beispiele gesetzt. Die Chancen, dass Netanyahu und Abbas sich zu staatsmännischem Format aufschwingen könnten, sind gering – aber sie sind, wie manche überraschenden Wendungen in der Geschichte lehren, nicht gleich Null.