„Wir stocken auf“, sagt Dominik Stillhart im Gespräch mit Journal21. Er ist Direktor für internationale Einsätze und arbeitet seit 30 Jahren für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das seinen Hauptsitz in Genf hat.
Journal21: Wie sieht dieses Aufstocken aus?
Dominik Stillhart: Wir eröffnen im Al-Shifa-Hospital, dem grössten Spital in Gaza-City jetzt einen zusätzlichen Flügel mit 50 Betten, der völlig unter Kontrolle des IKRK steht. Dort verfügen wir auch über einen Operationssaal.
Zudem haben wir zwei zusätzliche komplette chirurgische Teams, die vom DEZA mitfinanziert werden, nach Gaza entsandt. Dabei handelt es sich um erfahrene Kriegschirurgen. Der eine stammt vom Genfer Universitätsspital. Diese zwei Teams sind für sechs Monate im Einsatz. Natürlich liefern wir auch medizinisches Material, Medikamente, Tragbahren und so weiter. Insgesamt sind in Gaza 15 internationale IKRK-Mitarbeiter tätig, die von etwa 100 lokalen Kräften unterstützt werden.
Wie präsentiert sich heute die Lage in den Spitälern?
Noch immer brauchen weit über 1’300 Verwundete Hilfe. Etwa die Hälfte von ihnen kann von unseren zwei zusätzlichen Chirurgenteams betreut werden. Viele der Verletzten müssen mehrere Male operiert werden, um zu verhindern, dass ihnen Glieder amputiert werden müssen.
Seit dem „Marsch der Rückkehr“, der am 30. März begann, gab es jeden Freitag grosse Demonstrationen an der Absperrung, der den Gaza-Streifen von Israel trennt. Am 14. Mai eskalierte die Lage. Mehr als 110 Menschen starben durch Schüsse. Wie erlebte das IKRK diesen Schreckenstag?
Die Situation in den Spitälern im Gaza-Streifen war absolut dramatisch. „So etwas haben wir noch nie erlebt“, sagten uns erfahrene Kriegschirurgen. An diesem einzigen Tag sind Tausende Verwundete in die Spitäler eingeliefert worden. Sterbende lagen in den Gängen herum. Selbst das Putz- und Wachpersonal legte Hand an und betreute die Verletzten.
Die Demonstrationen gingen dann nach dem 14. Mai weiter, immer am Freitag. Die Spitäler versuchten, jeweils am Donnerstag die operierten Verletzten ausserhalb der Krankenhäuser zu platzieren, um den neuen Verwundeten Platz zu machen.
Wie gestalten sich Ihre Kontakte mit der Hamas?
Sie sind sehr gut. Hamas kam im Gaza-Streifen 2005 an die Macht. Seither pflegen wir einen intensiven, konstruktiven Dialog mit den Hamas-Behörden. Wir besuchen auch Gefangene im Gaza-Streifen.
Und wie gestalteten sich während den Demonstrationen die Kontakte mit Israel?
Hauptaufgabe des IKRK war es, dafür zu sorgen, dass die Verwundeten mit den 58 Ambulanzfahrzeugen, die im Dienste des Palästinensischen Roten Halbmonds sind, evakuiert werden konnten. Während der neun Demonstrationstage haben die Ambulanzen 20’000 Einsätze gefahren und mehr als 6’000 Verwundete transportiert. Mit den israelischen Streitkräften haben wir koordiniert, dass die Krankenfahrzeuge nahe an die Absperrung heranfahren und die Verletzten einladen konnten.
Unser Autor, Arnold Hottinger, nennt in einem seiner jüngsten Berichte den Gaza-Streifen ein „Freiluftgefängnis“. Sehen Sie das auch so?
Ich war selbst Delegationschef des IKRK in Israel. Immer wenn ich den Gaza-Streifen besuchte, frappierte mich die krasse Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung. Die Menschen dort sehen keine Zukunft für sich. Früher konnten die Bewohner von Gaza in Israel arbeiten und Geld verdienen. Jetzt sind diese zwei Millionen Menschen auf knapp 400 Quadratkilometern eingesperrt. Sie können den Streifen unmöglich verlassen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 60 Prozent. Zwar verhungert niemand, die Leute sind relativ gut ausgebildet, die Einschulungsrate ist hoch. Doch die Eltern wissen nicht, was aus ihren Kindern werden soll. Folge dieser totalen Perspektivenlosigkeit sind dann Ausbrüche, wie wir sie eben erlebt haben.
Die Demonstrationen sind jetzt abgeflaut. Doch der Gaza-Streifen bleibt eine Zeitbombe. Sie pflegen Beziehungen zu Israel. Wie sehen das die Israeli?
Israel weiss natürlich Bescheid über die Situation im Gaza-Streifen. Doch hier treffen zwei grundsätzlich verschiedene Standpunkte aufeinander. Den Israeli geht es in erster Linie um ihre unmittelbare Sicherheit. Anderseits geht es den Palästinensern darum, dass die Flüchtlinge irgendwann heimkehren können.
Wir pflegen einen recht konstruktiven Dialog mit Israel und seinen Streitkräften. Sie haben ein offenes Ohr für uns. Selbstverständlich möchten wir viel mehr erreichen. Die Resultate sind natürlich nicht das, was wir – vom humanitären Standpunkt aus betrachtet – sehen möchten.
Bundesrat Ignazio Cassis hat in einem Interview gesagt: „Indem wir das Uno-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNWRA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben.“ Was sagen Sie dazu?
Die grosse Frage ist: Ist dies Cassis’ persönliche Ansicht oder bedeutet das eine Änderung der Nahostpolitik der Schweiz? Diese muss in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden.
Unser Land hat die UNWRA immer grosszügig unterstützt. Diese Uno-Organisation ist nicht nur ein wichtiger Arbeitgeber, sondern wurde geschaffen, um den palästinensischen Flüchtlingen zu helfen und ihnen im Erziehungs- und Gesundheitsbereich beizustehen. Je länger der Konflikt dauert und je länger der Friedensprozess nicht wirklich in Gang kommt, desto mehr sinken die Chancen für eine Zweistaatenlösung.
Die UNWRA-Frage muss Teil einer grösseren politischen Reflexion sein, nämlich: Wie will man „the Mother of all conflicts in the Middle East“ angehen? Bevor man da eine Politikänderung einführt, muss man sich schon überlegen, welche Konsequenzen das hätte und was man damit erreichen will.
(Mit Dominik Stillhart sprach Heiner Hug)