In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich im Diskurs zum Thema Palästinenser der Ausdruck „Narrativ“ zu einem Modewort entwickelt. Unter dem Wort Narrativ ist gemäss Hans-Jürgen Pandels „Handbuch der Methoden im Geschichtsunterricht“, historisches Erzählen (lateinisch narratio) zu verstehen. Bei einer Narration, so Pandels, werden mindestens zwei Ereignisse, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben, sprachlich miteinander verbunden. Die Narration ist eine anschauliche Schilderung zeitlicher Ereignisfolgen.
Narrativ und Wunschdenken
So entsteht ein Sinnzusammenhang bzw. eine sinnvolle Einheit dieser zeitdifferenten Ereignisse. Der Verfasser, der nicht zwingend studierter Historiker sein muss, wählt selbst Anfangs- und Endpunkte seiner Narration aus, da Geschichte ein fortlaufender Prozess ist, was bedeutet, dass sich die Verhältnisse ständig verändern. Wichtig ist, dass eine Narration immer auf Quellen basiert. Die Darstellung muss somit triftig und plausibel sein. In anderen Worten, letztere muss historisch belegbar sein. Form und Handlungsträger dürfen fiktiv sein. Sie wirken somit repräsentativ für bestimmte Ereignisse.
Bei den meisten geschichtswissenschaftlichen Texten handelt es sich um Narrationen, ausgenommen sind geschichtstheoretische und geschichtsphilosophische Texte. Das Ziel bei der Auseinandersetzung mit einer Narration im Geschichtsunterricht besteht darin, die narrative Kompetenz zu bilden. Folglich wird das Geschichtsbewusstsein aktiv, erfahrbar und motivierend gefördert.
Mit anderen Worten: mit einem Narrativ kann sehr vieles beeinflusst werden. Narrative können einer politischen Ideologie angepasst und zur Förderung von politischem und religiösem Hass missbraucht werden. Narrative sind heute sehr oft zu einem Mittel verkommen, das Wahrheit mehr denn je einem Wunschdenken weichen lässt. Fakten und Belegbarkeit werden unterschlagen und haben aufgehört, in einem Narrativ eine wesentliche Rolle zu spielen.
Geglaubtes wird zur Tatsache
So werden Fakten ideologischen Vorurteilen angepasst, Lügen werden als die Wahrheit eines spezifischen Narrativs verkauft. Kurz, zu klaren belegten Fakten bestehen trotz allen Bemühungen neutraler Kreise verschiedene Narrative, deren Aussagen sich oft gegenseitig ausschliessen. Geschichte mutiert zum Glauben, geglaubt wird, was in individuelle Ansichten und Vorurteile passt. Fakten sind nicht nur zur Nebensache geworden, sie werden ignoriert oder oft ohne Gegendarstellung trotzig abgelehnt. Geglaubtes wird zur Tatsache erhoben, oft auch von religiösen und politischen Führern zum alleingültigen Dogma ernannt.
Beispiele gibt es in der menschlichen Geschichte genügend, doch sollte uns vor allem der faktenfreie Einfluss heutiger Narrative interessieren. Auf Grund gefälschter Narrative brechen Kriege aus, werden Menschenrechte verletzt, ja massiv Völkermorde begangen. Das Phänomen der Vorliebe für ausgesuchte Narrative und dem Ignorieren von Tatsachen ist besonders markant im Zusammenhang mit dem historischen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Mit drei Beispielen soll der fatale Clash zwischen belegten Fakten und unbelegten, ja erfundenen Narrativen unterstrichen werden:
Die ersten Palästinenser
Mein in Russland geborener und inzwischen verstorbener Schwiegervater war Palästinenser. Am 31. Mai 1926 wurde ihm vom damaligen britischen Hohen Kommissionär Palästinas die palästinensische Bürgerrechtsurkunde verliehen. Er arbeitete wie heute viele andere Palästinenser im Strassenbau. Er war Strassenarbeiter, und ich habe noch Dokumente, die zeigen, wie er mithalf, die heute bekannte Allenbystrasse in Tel Aviv zu errichten. Allerdings war er als palästinensischer Bürger nicht Araber, sondern Jude. So war es in jener Zeit, der Zeit des britischen Mandates für Palästina, das das türkische Sultanat oder Kalifat ablöste, in dem es auch noch keinen anerkannten Staat Palästina gab.
Die heutigen sich Palästinenser nennenden Einwohner waren damals noch Araber, Südsyrer und ähnliches – vor allem jedoch Araber. Ihre Familien im heutigen Staat Israel haben noch heute Familienmitglieder in den heutigen arabischen Staaten. Nur mein Schwiegervater und seine Arbeitskollegen waren damals Palästinenser, es war eine Bezeichnung vor allem für Juden. Diese ersten modernen Palästinenser europäischen Ursprungs übernahmen vollumfänglich Verantwortung für ihr Schicksal und für ihre eigene Zukunft.
„Alternative Narrative“ zur Judenverfolgung
Kaum ein geschichtliches Ereignis ist für Fachleute und Laienpublikum so extensiv und eindeutig belegt wie die Geschichte der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten und ihre Sympathisanten. Angefangen mit Hitlers Hassfantasien in seinem Buch „Mein Kampf“, weitergeführt in der Nazizeitschrift „Der Stürmer“ Julius Streichers, der Kristallnacht vom 8. November 1938, in den Protokollen der Wannseekonferenz, der Opferbuchhaltung des Vernichtungslagers Auschwitz und anderer KZ, die fotografischen, schriftlichen und mündlich festgehaltenen Dokumente über die deutschen Einsatztruppen im Osten Europas, der hinterlassenen Vergasungs- und Kremationsanlagen und den unzähligen von alliierten Befreiern vorgefundenen und fotografisch festgehaltenen Leichenhaufen.
Das in den letzten paar Jahren kreierte Narrativ des Bezweifelns oder gar Abstreitens nazistischer Judenverfolgung und Judenvernichtung (die Massenmorde an nichtjüdischen Menschen dürfen darüber nicht vergessen werden) sind trotz eindeutigster und nicht zu bezweifelnder Beweislage eine der Folgen solcher „alternativer Narrative“. Genauso das Wiedererwachen des alten Judenhasses, der heute einen neuen Namen, nämlich „Israelkritik“, trägt. Früher waren Juden als Einzelpersonen Ziel rassistischer Judenhasser, heute ist es deren Staat als Kollektivobjekt.
„Al-Aksa ist in Gefahr!“
In Israel gibt es einen Vertreter der alten muslimischen Bruderschaft mit Namen Scheich Ra’ed Salah. Früher war er Bürgermeister der grössten islamischen Stadt Israels, Umm El-Fahm. Er soll sogar ein sehr guter Bürgermeister gewesen sein, der den städtischen Beamten ihr Salär immer pünktlich ausgezahlt haben soll, wie mir einer seiner Jünger erklärte. Dann, nach drei Jahren, fand der Scheich Religion – oder Religion fand ihn – und er wurde zum Leithammel des islamistischen Fundamentalismus in Israel, Kopf der dortigen Muslimbruderschaft. Mit lauten Hetzkampagnen führt er seit Jahren eine alte, fast hundertjährige Islamistentradition fort, die in den zwanziger Jahren vom damaligen Grossmufti Jerusalems Mohammed Amin al-Husseini eingeführt worden war: „Al-Aksa ist in Gefahr“.
Das schreit er fast täglich in hysterischen Versammlungen in den Medien und wiegelt so, zusammen mit dem palästinischen Ministerpräsidenten Mahmud Abbas (dessen Amtszeit längst abgelaufen ist) die Muslime der Westbank zum Judenhass auf. Das Resultat sind die Messerangriffe auf israelische Zivilisten, darunter Babies und alte Leute. Zurzeit sitzt der Scheich allerdings eine mehrere Monate dauernde Haftstrafe ab.
Um was geht es hier? Al-Aksa ist die kleinere Moschee auf dem Tempelberg, steht neben dem etwas älteren Felsendom, beide vom Kalifen Omar im achten Jahrhundert erbaut. Das sind in extremer Kürze die historischen Fakten. Al-Aksa gilt als drittwichtigster heiliger Ort des Islam. Für Juden steht die Moschee auf Jerusalems Tempelberg, die Klagemauer ist Teil davon. Einen Exklusivitätsanspruch gibt es deswegen nicht, auch wenn es eine kleine Zahl israelischer Spinner gibt, die den alten Tempel wieder erbauen möchten. Diese Idee wird allerdings von der erdrückenden Mehrheit der jüdischen Israelis abgelehnt. So wie es auch in christlichen Gotteshäusern und heiligen Orten der Fall ist, ist nach jüdischer Ansicht jeder auf dem Tempelberg willkommen, unabhängig von seiner persönlichen Religion. Die islamistischen Al-Aksa-Wächter und andere fanatische Muslime sind anderer Meinung und anerkennen nur eigene muslimische Rechte auf diesen Ort. (Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Besuch Mekkas durch „Ungläubige“ seit jeher unter Todesstrafe steht).
Angst vor kritischen Stellungnahmen
Die Behauptung „al-Aksa ist in Gefahr“ hat mit der Realität nichts zu tun und ist allein Ausdruck des inhärenten Juden- und Fremdenhasses islamistischer Kreise. „Al-Aksa ist in Gefahr“ ist eine der zahlreichen palästinensischen Verleumdungsaktionen gegen Israel. Die palästinensische Führung bedient sich ihrer, da sie weiss, dass Israel weder militärisch noch diplomatisch zu besiegen ist. Daher wird eine alte Grundhaltung eines ihrer bisherigen Führer auf die Spitze getrieben, die der fast schon genial zu nennenden Verleumdung anderer – einer Tradition aus der Schatzkammer des Jerusalemer Muftis Amin al-Husseini ab den zwanziger Jahren.
Muslime haben häufig Angst, bei Problemen dieser Art (zum Beispiel den palästinensischen Messermorden an Juden, die in gewissen Kreisen der muslimischen Welt gefeierten Terroranschläge in westlichen Ländern, aber auch politischen Streitereien in den eigenen Reihen) Stellung zu beziehen. Das könnte für sie tödlich sein. Doch die wachsende Indoktrination zum Hass auf Juden in palästinensischen Schulen und Moscheen lässt in absehbarer Zeit nicht auf eine Änderung dieser verfahrenen Situation hoffen. Sie sind Narrative, die nicht stimmen und einzig und allein der Förderung des Hasses dienen. Ich zitiere nochmals die von Hans-Jürgen Pandel eingangs gemachte Feststellung: „Narrative können einer politischen Ideologie angepasst und zur Förderung politischen und religiösen Hasses missbraucht werden.“
Eine Alternative dazu gibt es: ehrlichen und nachhaltigen Frieden mit Israel. Das würde israelischen Scharfmachern – auch die gibt es – den Wind aus den Segeln nehmen, denn es kann nicht erstaunen, dass die palästinenserkritische Einstellung einer wachsender Zahl von jüdischen Israelis das Resultat tiefer Enttäuschung über die Politik der palästinensischen Führung ist. Das gilt auch für die jetzige israelische Regierung unter Netanyahu, die sehr nationalistisch geworden ist. Auch dies ist mit ein Resultat enttäuschter Wähler mit den jahrzehntelangen israelisch-palästinensischen „Friedensverhandlungen“, deren vielversprechender Abschluss wiederholt im allerletzten Moment von palästinensischen Führern zurückgewiesen worden ist.
Die Regierung, die sie verdienen
Heute muss man leider sagen, dass die Palästinenser – aber auch die Israeli – die israelische Regierung haben, die sie verdienen. Rechtslastig und (verständlicherweise) überaus sicherheitsbetont. Für letzteres gibt es gute Gründe, wie Vergangenheit und Gegenwart beweisen. Doch noch immer sind Hundertausende Israelis friedensbereit. Das drückt sich immer wieder in den vielen Friedensdemonstrationen aus. Entsprechendes ist in der gesamten arabischen und muslimischen Welt nicht zu finden. Zurzeit sind friedensbereite und islamkritische Muslime fast ausschliesslich in den freien westlichen Gesellschaft zu vernehmen, wo sie weniger bedroht leben.