Entstanden ist dieses Werk 1996 auf Grund einer Enttäuschung des Komponisten. Nach der Auflösung des Ostblocks hatte er den Aufbruch zu neuen Ufern erwartet. Der aber blieb aus.
Haas, der diesjährige Composer in Residence in Luzern, der als kompositorisch als äusserst kreativ gilt und musikalisch immer wieder Neuland betritt, stellt mit ‚Nacht’ an sein Publikum hohe Anforderungen. Einmal durch die dichten Hölderlintexte, die zudem von durch mehrere Personen besetzte Figuren gegeben werden. Dann auch durch die tief emotionalisierende Musik. Beides ist so intensiv, dass allein Text oder Musik die Rezeptionsfähigkeit völlig ausfüllen würde.
So springt die Aufmerksamkeit des
Betrachters und Hörers zwischen Kopf und Gespür hin und her um sich dann irgendwo, wahrscheinlich in der Musik,
festzusetzen. Und dann entsteht Erstaunliches: Am Ende der von Schmerz und Verlust geprägten Oper ist das Publikum
sinnend in sich gekehrt, doch es fühlt sich wohl. Kommt das daher, dass der Komponist in einer, wie er scherzt,
unkatholischen, doch von Plato geprägten Sichtweise doch an das Gute im Menschen glaubt?
Wir sprachen mit Georg Friedrich Haas während der Proben in der ‚Gare du Nord’.
Sie gelten ja als politisch sehr engagierter Mensch. Warum war Ihnen dieses Thema so wichtig?
G. F. Haas: Das Jahr 1989 mit der Selbstauflösung des sogenannten real existierenden Sozialismus war in meinem politischen Bewusstsein eines der glücklichsten Jahre überhaupt. Die Tatsache, dass da ein
gewalttätiges und die Menschen einengendes System ganz einfach verschwindet, nicht einmal implodiert, sondern innerhalb
weniger Wochen nicht mehr da ist, war die Erfüllung eines Traumes. Sehr bald aber wurde dann klar, dass es in der
Realität solche Träume nicht gibt. Vergleichbar der Situation in Deutschland und in Österreich nach der Nazizeit wurde
klar, dass zwar die führenden Gestalten verschwunden sind, doch waren die Exponenten der zweiten Reihe immer noch da.
Auch war zu erkennen, dass der Kapitalismus seine Kontrollinstanz verloren hatte, denn solange es die Konkurrenz des Kommunismus gegeben hatte, musste er ja ausser seiner wirtschaftlichen auch seine moralische Überlegenheit zu beweisen. Nun konnte sich der Kapitalismus viel ungehemmter entwickeln, und nun sehen wir Entwicklungen, die deutlich in Richtung einer weniger humanitären Gesellschaft gehen. Was dann auch zu spüren war, ist, dass in dieses ideologische Vakuum nationalistische, rassistische und antisemitische Gruppen nachströmen könnten. Das, was heute zum Beispiel in Ungarn passiert, war in diesem Augenblick, also1995/1996, schon voraus zu ahnen.
Warum habe Sie für dieses Thema die Form der Oper gewählt?
Oper ist die Verbindung von Musik, Sprache und Szene, eine unglaublich intensive Kombination. In der Oper ‚Nacht’ habe ich nicht nur die Verantwortung für die Musik übernommen, sondern auch weitgehend die für den Text. Die Worte sind zwar nicht von mir, sondern von Hölderlin. Aber die Szenen, die aus diesen Worten formuliert wurden, sind von mir zusammengestellt, und komponiert worden. Sie beanspruchen und wirken auf alle Sinne Dies hätte ich nicht mit einem Streichquartett geschafft, nicht mit einem abstrakten Instrumentalwerk, auch nicht mit einer Kantate. Das geht nur mit der Oper.
Warum haben Sie dazu Hölderlintexte gewählt, 200 Jahre früher geschrieben?
Es wäre möglich gewesen ein aktuelles Lehrstück zu schreiben. Das konnte ich aber nicht. Ich habe mich entschieden auf eine für mich vergleichbare Situation in der Vergangenheit zurück zu greifen. Zufällig genau 200 Jahre früher, 1789, gab es ja schon mal eine gewaltige und intensive Veränderung, allerdings keine unblutige: Die französische Revolution. Auch sie war die Verwirklichung eines Traumes für viele Menschen. Meine These ist: dass Hölderlin diese Entwicklung zunächst einmal aus tiefstem Herzen begrüsst hat und sich sehnlichst gewünscht hat, dass in Deutschland vergleichbare Entwicklungen stattfinden würden. Und dass er dann, in Bordeaux, die Realität dieser Revolution gesehen hat. Seine Utopien zerbrachen und trugen massgeblich zu seiner psychischen Krise bei. Parallel dazu kam der persönliche Aspekt: Zum Verlust der politischen Utopie kam der Verlust der privaten Utopie. Er erfuhr vom Tod seiner Geliebten Susette Gontard.
In der Oper sind die Personen durch ihre Stimmlagen definiert, der Tenor, der Bariton etc, und diese stellen jeweils verschiedene Personen dar, wie der Bariton sowohl Hölderlin spielt wie auch diverse Figuren aus seinen Werken.
Hölderlin hat sich offensichtlich mit den Figuren in seinen Werken identifiziert. Wie er auch seine Geliebte mit dem Namen der ihr entsprechenden Kunstfigur ansprach.
Was haben Sie damit bezweckt?
Diese Oper hat viele Themen: Einmal den Verlust der politischen Utopie . Dann aber auch Hölderins Erkenntnis, dass es keine zweite Person in seinem Leben gibt; nur ein Ich. Alle seine Gestalten, die er aufbaut, sind nur Projektionen seines Selbst. Und dies liess sich sehr klar machen auf der Bühne indem man einen Menschen all diese verschiedenen Rollen singen lässt.
Wie sind Sie an die musikalische Umsetzung heran gegangen?
Meine Zugangsweise war eine primär assoziative. Auf der einen Seite
sind da
der Sprachrhythmus und die Sprachmelodie, die meine Gesangslinien entscheidend beeinflussen. Aber die Klänge
selbst sind nach assoziativen Überlegungen damit in Verbindung gebracht. Wie die Akkorde genau aufgebaut sind, wo ich
mikrotonal komponiere und wo im traditionellen Tonsystem, ist für die Rezeption vollkommen unwichtig. Wichtig ist, dass
man sich dem Sog und der Kraft der Klänge hingibt.
Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass es ein Irrtum ist wenn man
meint man müsse Musik verstehen. Im Gegenteil ! Vieles, was wir mit Verständnis in Verbindung bringen, auch im
Zusammenhang mit historischer Musik, lenkt eher ab. Wichtig ist, dass wir Musik empfinden. Dass wir spüren, was in
dieser Musik formuliert ist und dazu genügt es, so hoffe ich zumindest, bei meiner Musik die Ohren zu öffnen und das
Herz zu weiten. Mehr braucht man nicht.
Die Aufführung wird vom 20.-24. Oktober in der Gare du Nord zu sehen sein.