Die irakischen Parteien haben nach der Verfassung 91 Tage Zeit, um sich auf eine Regierungskoalition zu verständigen. Zuvor müssen sie sich auf einen Staatspräsidenten einigen. Nach der Zähigkeit der früheren Koalitionsverhandlungen in den Jahren 2009 und 2014 muss man auch dieses Mal mit langwierigen Gesprächen rechnen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Parteien den gesamten Zeitraum in Anspruch nähmen oder diesen „ausnahmsweise“ verlängern würden. Der Umstand, dass es sich bei den Verhandlungspartnern um Allianzen handelt, die auf die Wünsche der unterschiedlichen Parteien Rücksicht nehmen müssen, aus denen sie zusammengesetzt sind, macht die Verhandlungen natürlich nicht einfacher.
Eine Regierung von Sachpolitikern?
Kurz nach seinem Sieg hat Sadr erklärt, seine Allianz, die „Sairun“, sei bereit, mit einer ganzen Reihe von kleineren Gruppen zusammenzuarbeiten. Er nannte kleinere Allianzen von Sunniten, Kurden und Schiiten. Doch erwähnte er weder „Nasr“ (Sieg) al-Abadis noch „Fatah“ (Eroberung) Ameris. Das heisst, er erwähnt keine der beiden grösseren Gruppen mit 47 und 42 zu erwartenden Abgeordneten. Umgekehrt hat al-Abadi, der Ministerpräsident und Chef der dritterfolgreichsten Allianz, erklärt, er sei bereit, mit jedermann für eine Regierungskoalition zu verhandeln.
Sadr, der selbst nicht Regierungschef werden kann, weil er nicht Wahlkandidat war, wird der erste Politiker sein, der es versuchen darf, eine Koalition zu bilden. Seine Schwierigkeit dabei wird nicht sein, genügend Allianzen zu finden, die prinzipiell bereit sind, mit ihm zusammenzuarbeiten. Vielmehr liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, sein Programm der Beendigung der Identitätspolitik und Einführung einer „Sachpolitik“ in glaubwürdiger Weise, nicht bloss dem Schein nach, umzusetzen.
Gegen die Masse der Identitätspolitiker
Die grosse Masse der irakischen Politiker sind Identitätspolitiker, das heisst, sie sind es gewöhnt, als die Anführer und Interessenvertreter einer bestimmten ihnen zugehörigen Gruppierung religiöser oder ethnischer Art zu wirken und dabei ihre eigenen Interessen nicht zu vernachlässigen. Die Identitäten greifen über die irakischen Landesgrenzen hinaus in die Nachbarländer nach Iran und nach Saudi-Arabien. Die Kurden streben dabei ein jeweils iranisches, türkisches sowie auch syrisches „Kurdistan“ an, wobei allerdings Vorsicht geboten ist, um nicht die zur Zeit recht prekäre eigene Teilunabhängigkeit im irakischen Staatsverband ganz zu verlieren.
Sadr, der schiitische Geistliche und Politiker, hat kürzlich einen Besuch in Riad abgestattet und ist mit dem Kronprinzen Mohammed bin Salman zusammengekommen. Sein Zweck dabei war ohne Zweifel zu zeigen, dass er nicht an die iranische Politik gebunden, sondern bereit sei, mit all jenen zusammenzuarbeiten, denen es um das Wohl aller Iraker geht – und wären es sogar Vorkämpfer des Sunnismus! Umgekehrt hat Akbar Velayati, der als der engste Auslandsberater Khameneis wirkt, in Teheran und im Beisein des früheren Ministerpräsidenten al-Maliki erklärt, die islamische Revolution werde nicht dulden, dass im Irak Kommunisten und Liberale an die Macht kämen.
Kann Sadr al-Abadi trauen?
Ob Sadr gewillt sein würde, mit al-Abadi zusammenzuarbeiten, dürfte wohl von der Verteilung der Ministerposten abhängen, die sie miteinander aushandeln könnten. Falls al-Abadi dem Ministerpräsidenten, den Sadr vorschlagen wird, seinen Platz abtreten würde, wäre eine Koalition wohl wahrscheinlicher, als wenn er darauf bestünde, selbst Ministerpräsident zu bleiben. In diesem zweiten Fall würde Sadr es wahrscheinlich vorziehen, in der Opposition zu bleiben. Denn die Erfahrung, die er bisher mit al-Abadi gemacht hat, war, dass dieser unter dem Druck der von Sadr und seinen Genossen angeführten Demonstrationen versprach, etwas gegen die Korruption zu unternehmen, sich dann aber als eine Person erwies, der die Hände durch die identitätspolitisch ausgerichteten Parlamentarier gebunden waren.
Zu Abadis Verteidigung könnte man sagen, dass er bisher vor den Fragen der Beendigung der Identitätspolitik und Korruptionsbekämpfung den Notwendigkeiten eines militärischen Sieges über den IS den Vorrang gab. Beispielsweise hat sich seine elastische Haltung gegenüber den Milizen erwiesen, auf deren „identitären“ Wünsche und Bestrebungen er mindestens teilweise Rücksicht nahm, um sie als Kraft gegen den IS zu behalten und weiterhin zu nutzen. Sie wurden nominell der Armee unterstellt, behielten jedoch ihre eigenen politischen Anführer und Kommandostrukturen.
„Irak den Irakern“, sagt Sadr
Sadr tritt für die völlige Verschmelzung aller Milizen mit der irakischen Armee ein. Vielleicht wäre Abadi nun, nach dem Sieg über den IS, bereit, energischer mit Sadr auf ein Ende der Identitätspolitik und der Gräben zwischen den identitären Gruppen hinzuarbeiten. Doch Sadr und seine Verbündeten müssen entscheiden, ob sie derartigen Zusagen trauen wollen.
Was das nähere und das fernere Ausland vor allem interessiert, ist die Frage, ob der Irak sich mehr Iran oder mehr Saudi-Arabien und den Amerikanern anschliessen wird. Sadr möchte diese Frage beantworten mit: „Keinem von beiden, zu Gunsten einer eigenen irakischen Politik, die endlich auf das Wohl des Landes hinzuarbeiten hat!“ Jedoch, um seine Politik kompromisslos durchzusetzen, benötigte der Wahlsieger Sadr statt der erwarteten 54, über die er wahrscheinlich verfügen wird, 165 Abgeordnete – gut dreimal mehr, als er hat.
Der 1. Teil erschien am 17. Mai.