Es gibt noch keine offiziellen Resultate, doch die inoffiziellen weisen darauf hin, dass der umstrittene Verfassungsentwurf vom ägyptischen Volk angenommen wurde.
Die zweite Runde des Plebiszits, die in Oberägypten stattfand, hat allem Anschein nach noch mehr "Ja"-Stimmen gebracht als die erste Runde, die eine Woche zuvor stattfand. Auch sie hatte ein "Ja" gebracht. Die inoffiziellen Zahlen sprechen von einer gesamthaften Zustimmung von mindestens 56 Prozent. Auch die Opposition hat eingeräumt, dass die "Nein"-Stimmen in der Minderheit seien.
Wahlbeteiligung 30 Prozent
Es bestehen noch zahlreiche Einwände und Reklamationen, die berücksichtigt werden müssen, bevor ein endgültiges Resultat verkündet werden kann.
Die Wahlbeteiligung war bedeutend geringer als in den vorausgehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen. Sie dürfte rund 30 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten ausgemacht haben.
Das Ringen geht weiter
Man kann schwerlich erwarten, dass die politischen Leidenschaften sich nun beruhigen und Gegner sowie Befürworter der Verfassung nach dem Plebiszit übereinkommen werden, nun gemeinsam die junge ägyptische Demokratie voranzutragen. Der Streit um die Rolle des Islams in der Politik wird bleiben. Es ist zu befürchten, dass er weiterhin mit Demonstrationen auf den Strassen ausgetragen werden wird. Wie lange? Das kann niemand voraussagen.
Die Ambiguität der Verfassung
Doch sogar wenn es zu einer Beruhigung auf der Strasse käme, würde die Verfassung selbst dafür sorgen, dass der Streit nicht endgültig beigelegt werden kann. Die Verfassung ist so geschrieben, dass in der entscheidenden Frage von "wieviel Islam in der ägyptischen Politik?" alles von der Auslegung dieser Verfassung abhängt.
Man weiss, welche Auslegung die Salafisten von ihr machen möchten. Mehrere ihrer Sprecher haben sich gerühmt, dass sie es gewesen seien, die gewisse Artikel in die Verfassung eingebracht hätten, die es erlaubten, ja nach Ansicht der Salafitsten notwendig machten, andere Teile der Verfassung, etwa jene, die von den Menschenrechten der Ägypter handeln, im Lichte der Scharia zu "verstehen", was auch "einzuschränken" bedeuten kann.
Gesetze im "Licht der Scharia"
Der Mechanismus ist einfach: Die Gesetzgebung soll nach den Prinzipien der Scharia erfolgen. Diese sind durch die klassischen Rechtsquellen der Scharia bestimmt. In Fragen der Anwendung der (in sich äusserst vielfältigen) Scharia-Prinzipien sollen die Gelehrten der al-Azhar-Moschee zu Rate gezogen werden.
Wenn man dies auf die Freiheits- und Menschenrechte anwendet, die in der neuen Verfassung ausführlich aufgezählt sind, kann man fordern, die künftige Gesetzgebung, welche die Freiheits- und Menschenrechte konkretisieren soll, müsse "im Licht der Scharia" erfolgen und diesem gemäss restriktiv gehandhabt werden.
Als Beispiel: Die Rechte der Familie, die der Staat nach der neuen Verfassung zu bewahren hat, im Licht der Scharia interpretiert, ergäben eine Gesetzgebung, nach der die Frauen den Männern unterstünden. Obwohl auch in der Verfassung steht, dass "die Ägypter" (von den Ägypterinnen ist nicht ausdrücklich die Rede) alle gleichberechtigt seien.
Oder: Die Meinungsfreiheit ist garantiert, aber sie ist im Licht der Scharia gesehen in Religionsfragen eingeschränkt, weil "Beleidigung des Islams" zu bestrafen wäre, und möglicherweise auch Übertritte vom Islam zu einer anderen Religion.
Viele Meinungen in der Scharia
Was wir hier als "Licht der Scharia" bezeichnet haben, ist aber nie ganz eindeutig. Innerhalb der Scharia gibt es viele unter Umständen stark widersprüchliche Meinungen, die durch verschiedene Auslegungen und unterschiedliche Gewichtungen der Grundtexte durch die Gelehrten dieser Zeit und jene der vielen Jahrhunderte zuvor zustande kamen und weiter zustande kommen.
In der Praxis wird alles auf die Auslegungen ankommen, welche die Parlamentarier, der Präsident und die Gerichte, unter Abstützung auf die al-Azahr-Moschee, vornehmen werden.
Man sieht, es wird Grund zu unendlichem Streit bestehen. Dabei wird sich letztlich jene Macht durchsetzen, die am meisten Einfluss besitzt im Staat, bei dessen Streit- und Sicherheitskräften, in der Bürokratie, im Parlament, unter den Richtern und eventuell auch auf der Strasse.
Die Gründe der Stimmbürger
Das Plebiszit hat ergeben, dass rund einem Drittel der ägyptischen Gesellschaft diese Fragen so wichtig sind, dass sie die Mühen der Wahl auf sich nahmen. Diese konnten aus stundenlangem Warten in Schlangen bestehen, um zur Stimmabgabe zu gelangen. Rund die Hälfte dieses Drittels, etwa 16 Prozent der Stimmberechtigten, stimmten dem Verfassungsvorschlag zu. Nicht alle aus "islamischen Gründen", das heisst, weil sie entweder den Salafisten oder den Muslimbrüdern zuneigten. Allen Auskünften nach war auch ein wichtiges Motiv für die Zustimmenden, die Hoffnung, dass mit der neuen Verfassung die lange und turbulente Übergangsperiode zu Ende gehen werde und ruhigere Zeiten folgen könnten. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wussten, wenn sie "Nein" stimmten, würde dies die Übergangsperiode mit all ihrer Unruhe, ihren Unsicherheiten und ihren negativen wirtschaftlichen Auswirkungen verlängern, möglicherweise um ein volles Jahr oder mehr.
Auch von der Motivation der 14 Prozent "Nein" Stimmenden lässt sich annehmen, dass sie nicht rein "säkular" war. Die Ablehnung eines befürchteten Politmonopols durch die am besten organisierte Massenpartei der Brüder und deren Oberhäupter spielte eine Rolle. Auch alle heimlichen und offen auftretenden Befürworter und Anhänger des Mubarak-Regimes traten für das "Nein" ein, ironischerweise zusammen mit den Revolutionären, die auf eine brüderliche Musterdemokratie setzten und weiter setzen, wie immer sie sich diese ausmalen mögen.
Die Richter könnten noch einwirken
Die nächste Zukunft Ägyptens dürfte nun einerseits durch die Richter und die Gerichte bestimmt sein, andrerseits durch die in drei Monaten bevorstehenden Parlamentswahlen, von denen erwartet wird, dass sie die Übergangsperiode endgültig abschliessen werden.
Die Richter könnten ihre Fehde mit Mursi weiterführen und den zahlreichen Klagen, die gegen ihn und seine Dekrete sowie die Formulierung des Verfassungsvorschlags und die Durchführung des Plebiszits eingereicht wurden stattgeben, möglicherweise so weit, dass sie - wie einst am 14. Juni 2011 mit der Auflösung des Parlamentes - den ganzen bisherigen politischen Ablauf als "illegal" erklären und auf den Nullpunkt zurückwerfen.
Die Armee bleibt gewichtig
Doch man kann hoffen, dass sie dies nicht tun werden. Zurzeit betonen sie gerne, ihre Entscheide seien "unpolitisch". Als sie damals einen doch sehr politischen Entscheid fällten, taten sie dies in Abstimmung mit der damaligen Armeeführung, SCAF, und es ist nicht anzunehmen, dass die gegenwärtige Armeeführung eine Rückkehr der ägyptischen Revolution auf den Ausgangspunkt schätzen würde. Ihre Anliegen sind in der neuen Verfassung weitgehend berücksichtigt, und es ist ungewiss, ob sie ein für sie gleich günstiges Resultat erreichen könnten, wenn der ganze Prozess neu aufgerollt würde.
Das kommende Parlament
Dann folgt die Weichenstellung der Wahlen; diese müssen nun in drei Monaten folgen. Dabei hängt viel davon ab, ob die säkularen und liberalen Parteien sich diesmal auf die Wahlen hin, also in den nächsten drei Monaten, wirksam organisieren können. Es hat einen Zusammenschluss zahlreicher säkularer und politischer Parteien und deren Führer gegen Mursi gegeben, die sogenannte Nationale Rettungsfront.
Dies könnte der Beginn einer wirksamen Koalition gegen die Macht der Brüder und Salafisten werden. Doch die Gefahr ist gross, dass die verschiedenen Gruppen und Grüppchen sich wieder zersplittern könnten, wenn es nun darum geht, welche unter ihren Führungsfiguren möglicherweise in Machtpositionen aufrücken könnten.
Erwartete Rückschläge für die Muslimbrüder
Auf der Gegenseite ist zu erwarten, dass die Muslimbrüder weniger gut abschneiden dürften, als in den ersten Parlamentswahlen, die vom 11. November 2011 bis zum 11. Januar 2012 gedauert hatten. Die Enttäuschung all jener, die für die Bruderschaft stimmten und eine rasche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände erhofften, wird sich ohne Zweifel auswirken. Möglicherweise stärker für die Muslimbrüder, aber weniger stark für die Salafisten, weil deren Prediger und Inspiratoren versichern werden, die unerfreulichen Resultate der Muslimbrüder seien nicht durch zu viel Islam, sondern durch zu wenig Islam zu erklären. Bei einem Regime der Salafisten würde alles ganz anders werden.
Ein vielfältigeres Parlament
Doch solche Entwicklungen, die voraussehbar sind, lassen sich nicht quantifizieren. Erwarten kann man ein neues Parlament, wenn keine ausserordentlichen Entwicklungen eintreten, das bunter zusammengesetzt sein würde als das erste im Juni 2012 aufgelöste; möglicherweise ohne Übergewicht der beiden Islam-Faktionen.
Das hiesse dann, dass Mursi gezwungen wäre, mit einem Parlament zu regieren, das nicht seiner Tendenz angehörte. Dies könnte die Voraussetzung für eine Periode von politischen Kompromissen und von Versuchen konstruktiver Zusammenarbeit abgeben. Doch auch die negativen Möglichkeiten müssen ins Auge gefasst werden. Wenn diese einträten, käme es zu weiteren Machtkämpfen, innerhalb und ausserhalb des neuen Parlamentes und zwischen Parlament und Präsidenten. Mit in den Einzelheiten noch nicht voraussehbaren, jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach für die Entwicklung einer funktionsfähigen Demokratie sehr abträglichen Folgen.