Schon wieder holt den sich als Elder Statesman aufspielenden 91-jährigen Henry Kissinger seine Vergangenheit ein. US-Regierungsdokumente von 1976, deren Freigabe unlängst erzwungen wurde, protokollieren Aussagen Kissingers gegenüber dem damaligen Präsidenten Gerald Ford: «Ich finde, wir müssen Castro vernichten. Früher oder später müssen wir die Kubaner knacken», forderte Kissinger. Allerdings sollten zuerst die nächsten Wahlen abgewartet werden. Doch Ford verlor kurz darauf die Präsidentschaft und Kissinger sein Amt als Aussenminister.
2001 unternahm der englische Journalist Christopher Hitchens den Versuch, «jene Vergehen Kissingers zu untersuchen, die als Grundlage für eine Strafverfolgung dienen könnten und sollten: wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Delikte gegen das allgemeine Rechtsverständnis oder internationales Recht, darunter Verschwörung zum Mord, Entführung und Folter».
Keine Reaktion
Denn der Superstar der Aussenpolitik, die Lichtgestalt der Diplomatie Kissinger hat dunkle Seiten, war und ist skrupellos, immer heiligten Zweck und Selbstzweck die Mittel. Nur Hans Magnus Enzensberger wagte es schon früh, Kissinger als Kriegsverbrecher zu bezeichnen. «Hitchens trägt in seiner Anklageschrift die Belege für diesen Vorwurf zusammen», kommentierte die «Süddeutsche Zeitung» das Buch «Die Akte Kissinger» (im englischen Original «The Trial of Henry Kissinger»).
Aber weder dieses Buch noch der 2002 ausgestrahlte Dokumentarfilm «The Trials of Henry Kissinger» konnten den Nimbus Kissingers ankratzen, bis heute. Seine einfache Verteidigungsstrategie war und ist: gar nicht auf diese Vorwürfe reagieren, keine juristischen Schritte gegen massive Anschuldigungen wie «notorischer Kriegsverbrecher und Lügner» unternehmen. Und sich gegen die Veröffentlichung von offiziellen Dokumenten und Gesprächsprotokollen aus seiner Amtszeit mit allen Mitteln und bislang leider meistens erfolgreich wehren.
Der Unfriedensnobelpreis
Den Höhepunkt des Ruhms erklomm Kissinger 1973 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises für seine «Friedensverhandlungen» zur Beendigung des Vietnamkriegs. Sein ebenfalls geehrter nordvietnamesischer Verhandlungspartner lehnte die Auszeichnung mit der einfachen Begründung ab, dass der Krieg ja noch andauerte. Erst 1975 endete er mit der vollständigen Niederlage der USA.
Hitchens beschränkt sich in seinem Buch darauf, Indizien und Belege zusammenzutragen, «die sich in einer ordentlich verfassten Anklageschrift finden könnten». Darunter «die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen in Indochina, das vorsätzliche Einverständnis zum Massenmord und später zu einem Attentat in Bangladesch, die persönliche Anstiftung zur und Planung der Ermordung eines hohen Staatsbeamten in einem demokratischen Land – Chile –, mit dem die Vereinigten Staaten sich nicht im Kriegszustand befanden, die Anstiftung und Durchsetzung des Genozids auf Osttimor».
Kissingers Sabotage der Friedensverhandlungen mit Nordvietnam im Jahre 1968, die dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Hubert Humphrey wohl den Wahlsieg kostete und Richard Nixon unseligen Angedenkens zum Präsidenten machte, der 1974 zurücktreten musste, um einer Amtsenthebung zu entgehen; Kissingers Verwicklung in die zunächst geheime Ausweitung des Vietnamkriegs auf Kambodscha und Laos, sein Verrat an den irakischen Kurden, die er 1974 ermutigte, sich gegen den Diktator Saddam Hussein zu erheben, die Unterstützung des Apartheitregimes in Südafrika, seine Rolle in Lateinamerika zu Zeiten der Todesschwadrone und der Operation Condor, all das ist nicht Thema des Buchs von Hitchens. Denn das seien nur «Beispiele für unverantwortliche Machtausübung».
Perversion des Preises
Besonders stossend an der Verleihung des Friedensnobelpreises an Kissinger ist, dass damit der Mann geehrt wurde, der nachweislich fünf Jahre zuvor diese Friedensverhandlungen zu sabotieren half, um Nixon den Wahlsieg zu ermöglichen, der ihn mit der Position des Nationalen Sicherheitsberaters belohnte. 1973 wurde Kissinger zudem Aussenminister, überlebte den Sturz von Nixon und behielt das Amt unter Gerald Ford bis 1977.
Alleine die Fortsetzung des Vietnamkriegs zwischen 1968 und 1973 kostete mehr als 20'000 US-Soldaten und Hunderttausenden von Vietnamesen das Leben, und Kambodscha verwandelte sich in die «Killing Fields» der roten Khmer, deren Machtergreifung 1975 vom schmutzigen Bombardierungskrieg der USA vorbereitet wurde. Es ist eine einmalige Perversion der Idee des Friedensnobelpreises, ihn einem solchen Kriegsverbrecher zu verleihen.
Die Beweislage
In einem Parforceritt hat der 2011 verstorbene Hitchens Dokumente, Protokolle, Ergebnisse von US-Untersuchungsausschüssen und deklassifizierte Unterlagen zusammengetragen, die problemlos eine Anklage vor jedem beliebigen Gericht rechtfertigen würden. Nur akzeptieren die USA die Autorität des Internationalen Gerichtshofs nicht.
Allerdings zuckte Kissinger belegbar zusammen, als der ehemalige Diktator Chiles, Augusto Pinochet, auf Betreiben eines spanischen Staatsanwalts 1998 in London verhaftet wurde. Und die USA ankündigten, bisher geheime Dokumente über Morde und Folterungen freizugeben. Denn Kissinger war involviert in US-Geheimoperationen, um die Amtseinführung des demokratisch gewählten linken Präsidenten Salvador Allende zu verhindern. Insbesondere in den Versuch, den damaligen chilenischen Oberbefehlshaber der Armee René Schneider zu entführen, der seine Verfassungstreue und Loyalität gegenüber einem neuen Präsidenten immer betont hatte.
Schneider wurde beim Entführungsversuch durch Handlanger der CIA erschossen, später wurde Pinochet sein Nachfolger, stürzte mit Unterstützung der USA Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur, die bis 1990 andauerte. Während Pinochet immerhin nur knapp der Auslieferung an Spanien entging und in Chile bis zu seinem Tod im Jahre 2006 nur wegen hohen Alters und Krankheit nicht ins Gefängnis kam, entging Kissinger bislang allen Versuchen, beispielsweise der Angehörigen von Schneider, ihn vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Das wird angesichts seiner 91 Jahre auch nicht mehr geschehen. Aber die Schande soll ihn überleben.