Am vergangenen Freitag haben die Muslimbrüder offiziell zu Demonstrationen gegen das ägyptische Verfassungsgericht aufgerufen. Daran beteiligten sich auch einige der salafistischen Parteien. Die „Nur“ (Licht) jedoch, die grösste Salafistenpartei und zweitgrösste Partei Ägyptens, geht immer mehr eigene Weg und nahm an den Demonstrationen nicht teil.
Vor dem Gerichtsgebäude kam es zu Zusammenstössen mit Gegnern der Muslimbrüder. Drei Autobusse, in denen Muslimbrüder angereist waren, wurden verbannt. Die Polizei schritt ein, um die Demonstrierenden zu trennen. 31 von ihnen wurden festgenommen, 87 verletzt.
Muslimbrüder und Salafisten rücken zusammen
Die Demonstranten entrollten ein grosses Transparent auf dem mehrere Forderungen zu lesen waren: Eine „Reinigung der Medien und der Gerichte“; eine neue Regelung von Gerichtsbarkeit und Gesetz; Entlassung des Justizministers; sowie Anklage gegen den Richter Ahmed Zend und den Oberstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud. Diese extremen Forderungen gehen wohl eher auf das Konto der Salafisten als auf jenes der Muslimbrüder.
Die Salafisten sind radikale Parteigänger der Scharia und haben ein Interesse daran, das Prestige der "säkularen" Gerichtsbarkeit zu unterhöhlen. Doch die beiden Gruppierungen, Salafisten und Muslimbrüder, demonstrierten gemeinsam. Dies ist erneut ein Zeichen dafür, dass die Kämpfe zwischen der säkularistischen und der islamistischen Front in Ägypten zur Folge haben, dass die Muslimbrüder und die Radikalen des Salafismus zusammenrücken.
Ahmed Zend ist der Vorsitzende des Richtergremiums. Er war besonders energisch gegen Mursi und seinen Versuch aufgetreten, sich über die Richter zu erheben. Die Muslimbrüder hatten geplant, vor dem Gericht zu demonstrieren. Das Justizministerium hatte diesen Plan kritisiert. Doch die Muslimbrüder hatten offiziell die Erlaubnis für eine Demonstration erhalten. Ein Imam rief dazu auf, die Verantwortlichen der Mubarak-Epoche und Mubarak selbst erneut vor Gericht zu bringen. Er sagte auch, der Gerichtsapparat müsse gereinigt werden, "damit wir dem Freispruch für alle ein Ende bereiten".
Gericht mit politischer Schlagseite?
Dabei geht es einerseits um die Person Mubaraks. Mursi hat über den von ihm ernannten Obersten Staatsanwalt eine zweite Gerichtsverhandlung gegen Mubarak angeordnet. Dies bedeutet die Annullierung des ersten Urteils. Der Richter, der mit der Durchführung des zweiten Prozesses beauftragt war, hat sich am Tag, an dem er beginnen sollte, von der Verhandlung dispensiert, weil er "befangen" sei. Ein neuer Termin wurde angesetzt. Doch kurz darauf wurde Mubarak aus dem Gefängnis entlassen, weil die Zeit abgelaufen sei, in der er in Untersuchungshaft verbleiben konnte. Dies aber wurde wiederum aufgehoben durch einen anderen Richter, der einer Nebenklage gegen den früheren Staatschef stattgab. Auf Grund dieser Nebenklage hat Mubarak erneut für 14 Tage in Untersuchungshaft zu bleiben.
All dies erregt natürlich jene, die Grund haben anzunehmen, dass der frühere Staatchefs ihnen oder ihren Verwandten bitteres Unrecht angetan hat. Doch es geht auch um den Vorwurf, der immer wieder gegen die Richter erhoben wird, wenn es zu Verhandlungen gegen Polizisten und Polizeikommandanten kommt, denen vorgeworfen wird, Demonstranten erschossen zu haben.
Die allermeisten dieser Verhandlungen haben mit Freisprüchen geendet. Viele der Ankläger sind überzeugt, dass dies der Fall war, weil die Untersuchungen gegen die Angeschuldigten allzu nachlässig geführt worden seien. Belastungszeugen würden immer wieder ignoriert, sagen sie. Sie vermuten, dass dies geschehe, weil die Richter und die Staatsanwälte, wie auch die Kollegen der angeschuldigten Polizisten, alle Hand in Hand arbeiteten. Dabei handelt es sich in der Tat fast immer um Angehörige des Justiz- und Polizeiapparates, die unter Mubarak in ihre Ämter und Würden gelangten und seinem Regime dienten.
Der Staatsanwalt Mursis und jener Mubaraks
All dies mündet in den Streit, der sich seit Monaten um den Posten des Obersten Staatsanwalts dreht. Präsident Mursi hat mehrmals versucht, den Obersten Staatsanwalt, den Mubarak eingesetzt hatte, Abdel Meguid Mahmoud, abzusetzen. Doch die Richter, allen voran jene des Höchsten Verfassungsgerichtes, hatten erklärt, das könne er nicht. Der Oberste Staatsanwalt dürfe während seiner Amtsdauer nicht abgesetzt werden. Mursi war gezwungen, sich diesem Machtwort zu fügen.
Doch dann hatte er am 22. November 2012 eine "souveräne Erklärung" erlassen. Darin verfügte er, dass er, zumindest vorübergehend, über allen Gerichten stehe. Unter Berufung auf diese Erklärung hatte er Mubaraks Oberstaatsanwalt entlassen. Jetzt wurde Mursis eigener Kandidat, Talat Abdullah, eingesetzt. Talat Abdullah war es dann, der die Wiederaufnahme der Prozesse gegen Mubarak und gegen andere Angeklagte aus der Zeit der Demonstrationen, anordnete. Er begründete dies mit dem Umstand, dass es neue Hinweise auf die Schuld dieser Angeklagten gebe.
Doch der Protest gegen das "pharaonische" Dekret Mursis war so gewaltig, dass sich der Präsident gezwungen sah, seine „souveräne Erklärung“ zu relativieren. Vor allem die Richter und seine säkularen Gegner waren gegen Mursi Sturm gelaufen. Er räumte jetzt ein, dass seine Erklärung nur für die Zeit gelten sollte, während der das Land keine Verfassung besass. Diese wurde im Eiltempo durchgepeitscht und durch ein Plebiszit bestätigt. Doch diese Verfassung ist ein weiteres rotes Tuch für die säkularistische Opposition. Sie wirft ihr vor, sie sei allzu "islamisch" geraten.
Gültig? - Ungültig?
Die Entscheide, die er in jener Zeit getroffen habe, während der das Land keine Verfassung hatte, würden nicht umgestossen, sagte Mursi. Darunter fällt vor allem die Ernennung des Oberstaatsanwaltes Talat Abdullah und die Entlassung seines Vorgängers Abdel Meguid Mahmoud.
Inzwischen liegt ein weiteres Urteil eines Obergerichtes vor. Danach muss Mubaraks Staatsanwalt wieder eingesetzt und jener von Mursi entlassen werden. Doch gegen dieses Urteil kann Rekurs beim Obersten Verfassungsgericht eingereicht werden. Der Präsident, seine Anhänger und "ihr" Staatsanwalt selbst sind der Ansicht, das Urteil des Obersten Verfassungsgerichtes sei abzuwarten, bevor jenes des Obergerichtes umgesetzt werden müsse. Deshalb bleibe Talat Abdullah im Amt. Die Anwälte der Gegenseite sagen, das Urteil des Obergerichtes sei gültig und sofort durchzuführen, solange das Oberste Verfassungsgericht nicht anders entscheide.
Die Positionen sind verhärtet. Die Muslimbrüder geben deutlich zu verstehen, dass „ihr“ Oberstaatsanwalt im Amt bleibe – was immer auch geschehe. Sie berufen sich dabei auf eine eher obskure, jedoch in der ägyptischen juristischen Tradition nicht unbekannte Doktrin. Danach kann ein Staatsoberhaupt "souveränen Akte" anscheinend durchsetzen.
Die Geschichte hat soeben noch einen weiteren Aspekt erhalten. Der abgesetzte Staatsanwalt, Abdel Meguid Mahmoud, hat selbst gegen das Urteil des Obergerichtes, nach dem er wiedereinzusetzen wäre, Berufung eingereicht. Warum? Er hat erklärt, er tue dies, weil das Urteil des Obergerichtes zwar seine Wiedereinsetzung angeordnet habe. Doch das Gericht habe es unterlassen, das "pharaonische" Dekret Mursis, auf dem seine Entlassung beruhte, als illegal zu erklären. Ausserdem habe sich seine Wiedereinsetzung ja als nicht durchführbar erwiesen.
Das blockierte Wahlgesetz
Das Gerangel um die „souveräne Erklärung“ ist nur einer der Streitpunkte, bei denen sich die Gerichte, Mursi sowie seine Anhänger und Gegner in den Haaren liegen.
Politisch wichtiger ist der Streit um das Wahlgesetz. Ohne ein solches können die Parlamentswahlen, die Mursi so rasch wie möglich durchführen möchte, nicht stattfinden. Das Oberste Verfassungsgericht hatte das Parlament aufgelöst. Deshalb wurde das Wahlgesetz vom ägyptischen Senat formuliert. Doch dieses Gesetz wurde vom Obersten Verfassungsgericht in mehreren Punkten als verfassungswidrig bezeichnet.
Der Senat ist ein Oberhaus, in dem die Muslimbrüder die Mehrheit besitzen. Der Gesetzesentwurf ging an den Senat zurück, und die beanstandeten Paragraphen wurden korrigiert. Doch der Senat unterliess es, die korrigierte Fassung erneut dem Gericht zu unterbreiten und erklärte, die Wahlen seien auf den 22. April anzusetzen. Das Gericht schritt ein und verbot diesen Wahltermin, weil das Wahlgesetz noch immer nicht verfassungsgemäss sei. Der Senat sah sich gezwungen, es weiter umzuarbeiten und einige schwierige Neuregelungen aufzustellen, welche die Abgrenzung der Wahlkreise angehen.
Die Muslimbrüder, verantwortlich für die wachsenden Probleme
Die Partei Mursi hofft nun, die Wahlen könnten auf den 22. Oktober angesetzt werden. Doch das Wahlgesetz hat bis jetzt die Hürde des Verfassungsgerichtes noch nicht genommen. Wann die Wahlen stattfinden ist eine entscheidende Frage, weil dem Land droht, dass ihm die wirtschaftlichen Probleme über den Kopf wachsen. Schon jetzt verliert das Pfund rasch an Wert. Im ganzen Land mangelt es an Energie. Betroffen ist auch die Landwirtschaft. Die Lebenskosten steigen. Der Staat ist hoch verschuldet, seine Währungsreserven schmelzen, und der IMF fordert die Reduktion der staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, in erster Linie für Brot, aber auch für Brennstoffe wie Benzin, Diesel und Gas. Erst wenn diese Subventionen gekürzt würden, könne über eine Anleihe gewährt werden. Dabei geht es um 4,8 Milliarden Dollar, über die schon seit Monaten verhandelt wird. Finanzfachleute glauben, dass diese Summe ohnehin nicht ausreichen würde, um das Land zu stabilisieren.
Die regierenden Muslimbrüder sind in erster Linie verantwortlich für die wachsenden Probleme der Bevölkerung. Je länger der Wahltermin hinausgezogen wird, desto wahrscheinlicher ist, dass die Wähler sich von ihnen abwenden werden, weil der wirtschaftliche Druck auf sie jeden Monat mehr zunehmen wird. Die Demonstrationen vor dem Höchsten Gericht, zu denen die Muslimbrüder und ihre salafistischen Mitstreiter aufgerufen haben, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Offenbar versuchen sie, das Gericht unter Druck zu setzen.
Ums politische Überleben kämpfen
Während diesen Demonstrationen hiess es in Kreisen der Muslimbrüdern, dass auch auf die Polizei kein Verlass sei. Mursi selbst sprach in einer Rede von "Löchern", die es in den Reihen der Sicherheitskräfte gebe. Einer der Abgeordneten seiner Partei, der in das inzwischen aufgelöste Parlament gewählt worden war, behauptete, ein Polizeioffizier sei dabei ertappt worden, wie er Geld und Waffen an "Mietlinge" verteilt habe. Ein Abgeordneter der den Brüdern nahe stehenden Wasat-Partei sprach gar von einer "weit verbreiteten Verschwörung" unter den Sicherheitskräften. Diese liessen verlauten, sie seien "sehr verärgert" über solche Verleumdungen.
All diese Entwicklungen und Kämpfe lassen vermuten, dass Politiker und Parteien, einschliesslich der regierenden Muslimbrüder, immer mehr Energie einsetzen, um für ihr politisches Überleben zu kämpfen. Sie sind kaum mehr in der Lage, sich um den Aufbau des versprochenen demokratischen Staatswesens auch nur ernsthafte Gedanken zu machen.