Die islamistischen Gruppen hatten seit geraumer Zeit angekündigt, dass sie an diesem Tag, dem ersten Freitag im Ramadan, gedächten, "das ägyptische Volk" dazu aufzurufen, seinen Willen im ganzen Land klar zu machen.
Im Vorfeld der geplanten Grossdemonstration hatte es ausführliche Verhandlungen gegeben. Die Führer der revolutionären Jugend und jene der sich gegenwärtig langsam herauskristallisierenden Parteien und Parteikoalitionen kamen mit den Sprechern der beiden islamistischen Hauptströmungen, jener der Muslim Brüder und jener der Salafisten, überein, alle umstrittenen Schlagworte und Slogans zu vermeiden und als eine grosse vereinigte Kraft auf die Strassen zu ziehen. Sie gaben der geplanten Grossdemonstration einen Namen. Sie sollte der Freitag des "Volkswillens und der geeinten Front" werden.
Angeblich gemeinsame Anliegen
Nach diesen Vereinbarungen wären die Aufrufe für einen "islamischen Staat", einen "Scharia Staat" ebenso ausgeschlossen gewesen wie jene für einen einen "zivilen Staat". Die Abmachungen war, dass die Hauptanliegen "der Revolution" allein das Thema der Forderungen aller Art Demonstranten bilden sollten.
Als solche wurden festgelegt: Freilassung der politischen Gefangenen aus den Gefängnissen der Armee; Ende der Militärgerichte für zivile Angeklagte; Fürsorge und medizinische Versorgung der Verwundeten der Revolution und der Hinterlassenen ihrer Opfer; schnelle Aburteilung der Verantwortlichen für die Todesopfer und für Korruption und Repression in der Epoche Mubaraks; Reinigung der Polizei und Geheimdienste von korrupten Elementen; Entlassung der Parteigänger und Aktivisten des alten Regimes aus der Bürokratie der Ministerien und ähnliches.
Ein Meer von Islamisten
Doch schon gegen zehn Uhr am Freitag Vormittag wurde deutlich, dass die Islamisten diesmal den Tahrirplatz überschwemmen würden. Grosse Zahlen von Autobussen brachten ihre Anhänger und Aktivisten auf den zentralen Platz der ägyptischen Revolution. Ihre Sprecher schätzten sie auf zwei Millionen, neutralere Berichte sprachen von mehreren Hunderttausend.
Die Zugänge zu dem Platz wurden von Aktivisten aller Gruppierungen kontrolliert. Jedermann musste seine Identitätskarte vorweisen, und alle wurden auf Waffen durchsucht. Es lag im Interesse von allen, mögliche Provokateure fern zu halten.
Aufrufe der Prediger zu gemeinsamem Handeln
Die Freitagsprediger, die dann auf dem Tahrirplatz sowie auch auf vielen anderen zentralen Plätzen in den Provinzstädten auftraten, hielten sich an die Abmachungen. Sie riefen zur Einheit aller Kräfte auf. "Muslime und Christen sind eine Hand", liessen sie die Massen skandieren. Es gab Lob für die Armee. Sie sei in der Lage, meinte einer der Prediger "Wunder zu vollbringen, und sie schützt die Belange des Volkes". Es gab auch Warnungen an die "aussenstehenden Mächte, die sich einmischen wollen", "das Volk" werde sich scharf gegen sie auflehnen. Aufrufe, dem amtierenden Ministerpräsidenten, Essam Scharaf, "eine Chance zu geben", fehlten nicht.
Doch die riesige Masse der Demonstranten trug grüne Fahnen, Spruchbänder und Plakate, die sich klar auf die Hauptforderungen der Islamisten bezogen: ein "Islamischer Staat", "islamische Identität Ägyptens", "Scharia als Grundlage der Gesetzgebung". Schon am Donnerstag hatte die Verteilung von Manifesten und Plakaten der Islamisten in den Volksquartieren rund um Kairo begonnen.
Überwältigende Präsenz der Islamisten
Es gab zunächst drei Hauptgruppen auf dem Platz: jene der Salafisten, die sich zu grossen Teilen zu einer "Nur"-Bewegung ("nur" bedeutet Licht) zusammengeschlossen hatten; jene der Muslimbrüder und jene der Revolutionsaktivisten, die sich ihrerseits zu einer Koalition für "Gerechtigkeit und Frieden" zusammenfanden. Jede hatte eine Bühne für ihre Sprecher, die der Muslim Brüder war die grösste.
Neue Islamistengruppen kamen am frühen Nachmittag auf dem Platz hinzu. Er war nun so dicht besetzt, dass die "Dauerläufer" der Revolution, die seit dem 8. Juni dort ihr "sit in" aufrechterhalten, auf die Mitte des Platzes bei ihren Zelten zusammengedrängt und durch die Meschenmassen isoliert wurden. Sie kamen kaum mehr zu Wort. Die islamistischen Massen liessen es sich nicht nehmen, ihre eigenen Slogans zu rufen und ihr Hauptanliegen laut vorzubringen: "Islam! Islam!"
De-Solidarisierung der Revolutionäre
Gegen 15 Uhr nachmittags erklärten die laizistischen Revolutionäre - also jene Personen und Gruppen, welche die Revolution bisher in erster Linie getragen und vorangebracht hatten - sie seien verärgert darüber, dass die Islamisten sich nicht an die vereinbarten Spielregeln hielten. Sie würden ihr "sit in" fortsetzen, aber nicht mehr an der geplanten Grossdemonstration teilnehmen.
Doch ihre Entscheidung fand keinen sichtbaren Ausdruck im Gesamtbild der Demonstrationen. So sehr beherrschten die Islamisten den Schauplatz. Diese begannen gegen 17 Uhr abzuziehen und räumten ihre Bühnen ab. Es gab einige Dutzend von weissgekleideten Aktivisten, die sich in Einerkolonne durch die Massen der Islamisten hindurchschlängelten und dabei für einen "zivilen Staat" warben. "Nennt uns nicht Ungläubige", hatten sie auf ihre weissen Hemden geschrieben. Zu Schlägereien kam es in Kairo nicht.
Abzug eines Teiles der Revolutionäre
Im Verlauf des Nachmittags, um 16 Uhr 30, gaben die Sprecher vom 80 Jugendkoalitionen und politischen Parteien bekannt, sie würden den "sit in" auf dem Tahrir Platz, der seit dem 8.Juli andauerte, abbrechen. Dieser Beschluss sei nach einem dreistündigenTreffen mit Ministerpräsident Essam Scherif und dessen Vizepräsidenten für politische Angelegenheiten, Ali Es-Selmi, zustande gekommen. Auch der Innenminster Mansour al-Eissawi habe teilgenommen. Dieser Schritt dürfte einer weitgehenden Isolierung der wenigen unentwegten Revolutionäre darstellen, die den "sit in" fortführen wollen. Dadurch ergibt sich eine weitere Schwächung der Revolutionsaktivisten.
Aus allen Provinzstädten Ägyptens wurden ähnliche Demonstrationen gemeldet, Alexandria, Zagazig, Mansoura, Suez, Qena, Assiout, Fayyoum usw. Dabei scheinen die Islamisten in der Provinz noch klarer das Feld dominiert zu haben als auf dem Tahrir Platz in Kairo. Es gab keine Unruhen ausser in al-Arish an der Grenze zum Gazastreifen, wo bewaffnete Islamisten die Bevölkerung mit Schüssen einschüchterten und dann eine Polizeistation belagerten. Es gab dabei zwei tote Zivilisten und 13 verletzte Polizisten.
Salafisten und Muslim Brüder
Bei alledem wirkten die Muslim Brüder und die Salafiya-Gemeinschaften zusammen. Doch sollte man sich hüten, diese beiden islamistischen Kräfte als eine einzige gleichförmige Macht zu bewerten. Sie sind unterschiedlich in Organisation und Zielsetzungen. Die Muslim Brüder sind straff organisiert mit einer einheitlichen Führung und Parteizellen. Sie sind eine historische Kraft in Ägypten, die seit 80 Jahren besteht und viele Verfolgungen überdauert hat. Sie sind bekannt und beliebt bei der Bevölkerung wegen ihrer islamischen Ausrichtung und ihren sozialen Aktivitäten, die darauf ausgehen, Not leidenden "Brüdern im Islam" Hilfe zu leisten. Ihre politische Führung besteht aus einer alten Garde, die ihr Land sehr gut kennt und über reiche politische Erfahrung verfügt.
Die Brüder kennen jedoch neuerdings ein Generationenproblem: Ihre jüngere Garde strebt mit der Revolution, an der sie im Gegensatz zu den alten Herren der Führung aktiv beteiligt war, ein demokratisches System an. Die ältere Generation ist sich nicht sicher, ob sie an ihrer alten idealen Zielsetzung eines Kalifates für alle Muslime, festhalten kann und will, oder ob sie ein demokratisches Regime islamischer Färbung für Ägypten, nach dem erfolgreichen türkischen Vorbild, anstreben soll.
Die neue Kraft der Salafisten
Was heute in Ägypten Salafiya genannt wird, ist locker organisiert. Meistens besteht es aus den unterschiedlichen Gemeinden von streng orthodox ausgerichteten Predigern, die ihre Vision des gesetzestreuen Islam verbreiten. Sie predigen die strikte Befolgung des Gottesgesetzes nach dem "Vorbild des Propheten und seiner Zeitgenossen" ("Salaf" heisst Vorbild), das sich ihrer Ansicht nach in der Scharia niedergeschlagen hat und in ihr gewissermassen kodifiziert wurde.
Ihre Religionsauffassung steht jener von Saudi Arabien sehr nahe, und oft geniessen sie auch materielle Unterstützung aus saudischen Kreisen. Sie sind unpolitisch und meistens gewillt, sich mit der Regierung gut zu stellen, solange diese nur "den Muslimen erlaubt, als Muslime zu leben". Wie eine klassische Formulierung lautet. Gegenwärtig gilt ihnen die Militärführung als die legitime Herrschaft Ägyptens.
Ihre Tendenz hat sich während der vielen Jahrzehnte entwickelt, in denen die Brüder dem staatlichen Misstrauen ausgesetzt waren, wenn nicht sogar staatlichen Verfolgungen. Sie gaben sich damals unpolitisch und wurden vom Staat in vielen Fällen nicht nur geduldet sondern unterstützt, weil sie der Regierung als ein Gegengewicht gegen die Brüder dienten. Ihr Gewicht ist heute so bedeutend geworden, dass sie in der Lage sind, mit den Brüdern zu rivalisieren.
"Islamisch" als gemeinsamer Nenner
Beide Richtungen des Islamismus finden jedoch in Fragen zusammen, bei denen es um die Natur des künftigen Regimes geht. Dieses soll für sie beide "islamisch" sein, und dies bedeutet für beide, dass die Scharia die Grundlage für die Gesetzgebung Ägyptens bilden soll.
Der SCAF (Supreme Council of Armed Forces), die als provisorisch geltende, militärische Führung des Landes, hat angeregt, dass noch vor den erst im November erwarteten Wahlen eine konstitutionelle Grundsatzerklärung formuliert und festgeschrieben wird, welche die Grundzüge der Verfassung festlegen soll. Die Verfassung selbst hätte nach den Wahlen ein Ausschuss von etwa 100 Parlamentariern als Verfassungsversammlung auszuarbeiten. Ein bekannter Jurist hat bereits den Auftrag erhalten, eine solche Grundsatzerklärung zu entwerfen.
Doch die islamistischen Strömungen, Brüder und Salafisten, sind gegen diese Idee. Sie fürchten, ihr Zweck sei, die Beschlussfreiheit der künftigen, gewählten Verfassungsversammlung einzuschränken, indem sie das Konzept eines "islamischen" Staates von vorneherein ausschliessen. Dies könnte in der Tat der Zweck der vorgeschlagenen Grundsatzerklärung sein. Es sei denn, sie gehe auch darauf aus, die eigenständige Macht der Streitkräfte, so wie sie heute besteht, festzuschreiben und zu vermeiden, dass die Armee unter die Kontrolle der gewählten politischen Behörden gestellt werde.
Wahlzuversicht der Islamisten
Erst wenn die Formulierung der Grundsatzerklärung vorliegt, wird sich erweisen, ob sie mehr "laizistischen" oder mehr "militaristischen" Zielsetzungen dienen soll.
Die islamistischen Gruppen und Mächte scheinen sich auszurechnen, dass sie durch die Wahlen eine soweit beherrschende Stellung im künftigen Parlament erlangen könnten, dass es in erster Linie ihnen vergönnt sein wird, die kommende Verfassung zu formulieren, und sie wollen sich volle Bewegungsfreiheit in dieser Hinsicht sichern.
Umgekehrt sind einige der liberalen und laizistischen Kräfte diesem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen, weil auch sie annehmen, die Islamisten könnten das kommende Parlament dominieren, und es sei daher vorsichtiger, einige liberale Grundsätze von vorneherein festzulegen.
Wenn allerdings die Grundsatzerklärung auch eine Ausnahmestellung für die Armee festschreiben wollte, würden sie wohl ihre Ansicht ändern. - Möglicherweise zu spät, denn die Militärs sind heute die souverain herrschende Macht an Stelle des Staatschefs und daher in der Lage, Gesetze und wohl auch Grundsatzerklärungen nach ihrem Gutdünken zu erlassen, ohne irgendeine andere Instanz beiziehen zu müssen.
Die Islamisten für die Armee
Im allgemeinen spricht die islamistische Seite für die Armee und billigt ihre gegenwärtige Rolle als Lenkerin des Übergangs und Beschützerin der Revolution, während die Revolutionäre mehr und mehr auf Konfrontationskurs mit den Armeeoberhäuptern stehen.
Sie sagen ziemlich offen und öffentlich, dass sie befürchten, die Militärs könnten "die Revolution des Volkes stehlen". Die Revolutionsgruppe des " 6. April" hat sogar eine Verleumdungsklage vor dem Staatsanwalt gegen die Militärführung angestrengt, weil deren Sprecher den "6. April" beschuldigte, vom Ausland abhängig zu sein und Gelder vom Ausland entgegenzunehmen. Ob der Klage stattgegeben wird, steht noch offen.
Das Wahlgesetz hilft den Konservativen
Die Islamisten haben die Frage der Auslandsgelder aufgenommen und zu einem Gegenstand ihrer populistischen Propaganda gemacht. Ihre Manifeste weisen darauf hin, dass die ehemalige amerikanische Botschafterin, Margaret Scobey, in Washington angekündigt habe, die USA stellten 65 Millionen Dollars für die Förderung der Demokratie in Ägypten bereit. Dies, so die Islamisten, seien Gelder welche die Amerikaner ihren Agenten, den islamfeindlichen ägyptischen Gruppen, zusteckten. "Wir wollen einen ägyptischen islamischen Staat, nicht einen amerikanischen zivilen", betonen die Propagandaschriften.
Auch in der Frage des heiss umstrittenen Wahlgesetzes, das die Armeeführung unilateral erlassen hat, stehen die Islamisten der Armee nahe und den laizistischen Revolutionären entgegen. Das Gesetz sieht vor, dass die Hälfte aller Abgeordneten als Individuen, die anderen Hälfte auf der Grundlage von Parteilisten zu wählen seien. Dies gibt jenen Individuen erhöhte Chancen, die auf Grund ihrer lokalen Einflusses gewählt werden, sei dieser mehr wirtschaftlicher oder mehr sozialer Natur, wie die Macht lokaler Klan-Oberhäupter.
Solche lokalen Starken Männer sind praktisch nie Revolutionäre, weil ihre Macht auf dem Status quo beruht, und aus diesem Grund begünstigt das Wahlgesetz die konservativen Kräfte.
Armeekritische Parolen der Revolutionäre
Die Armee hat gleich noch hinzugefügt, sie lehne internationale Wahlbeobachter ab. Auch dabei stiess sie auf Widerspruch bei praktisch allen Parteien und Revolutionsgruppen, weil diese hinter der geforderten Abwesenheit von ausländischen Beobachtern bereits Pläne wittern, die bevorstehenden Wahlen von oben zu lenken. Ein Missbrauch, der in Ägypten durchaus Tradition besitzt.
Unter den Slogans, welche die Revolutionäre am Freitag auf dem Tahrirplatz skandierten, die aber im Getöse der Islamisten fast untergingen, gehörte auch, an die Adresse der Islamisten gerichtet: "Die Militärs haben euch betrogen; morgen werden sie euch vernichten!"
Zwei Hauptströmungen für die Revolution
Man kann zusammenfassen: der letzte Freitag hat erwiesen, dass die Revolution, bisher einigermassen vereint, heute in zwei grosse Hauptlager gespalten ist: jenes der Islamisten (aus den zwei Kräften, Brüder und Salafiya, zusammengesetzt) und jenes der Revolutionäre, das aus unzähligen liberal, sozialdemokratisch oder sozialistisch ausgerichteten Kleingruppen besteht. Zahlenmässig erscheint das Lager der Islamisten , wenn es all seine Anhänger zu motivieren vermag, ziemlich weit überlegen.
Im Zug der herannahenden Wahlen sind diese beiden Grundströmungen wahrscheinlich nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Sie haben es auf den Freitag hin versucht, doch konnten sie die von den Führungsgremien vereinbarte Zusammenarbeit wegen der Spontaneität der mobilisierten islamistischen Massen nicht durchführen.
Die Armee als lachender Dritter?
Den beiden nun wohl endgültig konfrontierten politischen Hauptströmungen stehen die gegenwärtigen Machthaber, die Oberhäupter der Armee, als dritte Macht gegenüber. Sie haben einen demokratischen Staat versprochen, doch niemand weiss genau, vielleicht sie selbst auch nicht, was sie im Detail darunter verstehen.
Was immer ihre politischen Zielsetzungen sein werden, sie könnten sich ebenfalls erst in den kommenden Monaten deutlicher abzeichnen, ihre Chancen diese zu erreichen, sind durch die Gegensätze unter der Bevölkerung gewaltig erhöht worden. Sie stehen nun nicht einer geeinten Revolution, sondern zwei konfrontierten politischen Strömungen gegenüber, die sie leicht gegeneinander ausspielen können, um ihre eigenen, wie immer gearteten, Ziele zu fördern.