Schwindelerregend ist das. Optisch, wie akustisch. Und Barbara Hannigan tut dies mit einer souveränen Leichtigkeit, die man als Zuschauer kaum für möglich hält.
Barbara Hannigan ist Kanadierin und ein musikalisches Multitalent. Das Stück, in dem sie sich gerade so richtig austoben konnte, ist die Oper «Lulu» von Alban Berg, also von vornherein keine leichte Kost und nicht gerade das, was ein breites Publikum so ohne weiteres ins Theater lockt. Christoph Marthaler hat dem Stück mit seiner Inszenierung noch einen draufgesetzt, indem er Lulu geradezu akrobatisch auftreten lässt. Ort des Geschehens: die Hamburgische Staatsoper, wo «Lulu» – dank Barbara Hannigan – zum Renner der Saison wurde. Gelobt von der Kritik und geliebt vom Publikum.
Lulu als Herausforderung
Drei Stunden vor der – bis auf weiteres – letzten Vorstellung, treffen wir uns in ihrer Garderobe. Zierlich und schmal ist sie. Die lange, blonde Mähne fällt ein bisschen kreuz und quer auf ihre Schultern, völlig unprätentiös sitzt Barbara Hannigan in diesem schmucklosen, etwas kargen Raum. Nichts deutet auf eine «femme fatale» hin, wie man sich die «Lulu» im Allgemeinen vorstellt. Hannigans «Lulu» ist anders. «Für mich ist sie eine starke Frau. Selbstbewusst. Ehrlich sich selbst gegenüber. Sie berührt mich sehr und ich habe grossen Respekt vor ihr. Sie passt in keine Kategorie, egal in welche. Ich glaube, sie ist vor allem frei. Und das ist für andere eine Herausforderung. Das gilt auch für das Publikum, das in ihr gern die ‘femme fatale’ sieht. Dieses Etikett wird ihr von Männern und Frauen angehängt, weil es so bequem ist. Aber das ist falsch. Wir alle benutzen aber solche Etiketten, weil sie uns das schöne Gefühl geben, etwas zu verstehen … dabei haben wir keine Ahnung …»
Gegen dieses Larifari wehrt sie sich
So wie Barbara Hannigan ihre «Lulu» beschreibt, so erlebt man sie auch als Person. Sie weiss was sie will und macht keine Kompromisse. Vor fünf Jahren stand sie bereits einmal als «Lulu» auf der Bühne. Das war in Brüssel und auch damals schon war es eine aufsehenerregende Produktion. Nicht zuletzt dank Barbara Hannigan. In Hamburg war aber alles neu und ganz anders. Sonst hätte sie es nicht gemacht. Das gleiche wiederholen, am anderen Ort mit anderen Kollegen … das interessiert sie nicht. In Hamburg war es allerdings Christoph Marthaler, der Regie führte. «Und Christoph habe ich seit ungefähr 15 Jahren auf meiner Wunschliste», sagt sie nun mit grosser Begeisterung. «Mit ihm zu arbeiten ist ein Traum!»
Die akrobatischen Fähigkeiten, die ihr in Marthalers Inszenierung so zu Gute kamen, hat sie sich in jungen Jahren erworben. «Schon ganz früh habe ich mit Tanz-Compagnien gearbeitet, aber ich war nie Tänzerin. Ich habe aber ein gewisses Körperbewusstsein entwickelt. Es mag manchmal spektakulär aussehen, was ich da auf der Bühne mache, aber für einen echten Akrobaten wäre das Kinderkram …». Nur: der Akrobat muss nicht auch noch singen dazu … «Ja, das stimmt …», gibt sie zu. Und es kostet doch sicher viel Energie …? «Ich schwitze nicht, mein Herz schlägt nicht wie verrückt, ich ziehe das bis zum Ende durch, dann setze ich mich hin und alles ist in Ordnung.» Barbara Hannigan sagt das, als ob sie von einem Sonntagsspaziergang reden würde. «Mein Herz schlägt nur dann schneller, wenn ich nervös bin. Nicht aber, wenn ich mich körperlich anstrenge.» Erstaunlich … «Ja, vielleicht…»
Lebenslanges Bemühen
Erstaunlich ist aber vor allem, dass sie daneben auch noch dirigiert. «Dirigieren sehe ich als Erweiterung meines musikalischen Könnens an. Es ist kein neuer Bereich. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt Psychiater bin und vorher Geigerin war. Dirigieren, das ist Forschung, Lernen, ein lebenslanges Bemühen, das nie aufhört. Mit dem Älterwerden singe ich weniger und dirigiere mehr.»
Sieben Jahre ist es nun her, seit sie in Paris zum ersten Mal offiziell vor einem Orchester stand. Das war im Théâtre du Châtelet mit Strawinsky. Seither gehört Dirigieren einfach dazu. 2014 stand sie am Lucerne Festival als «artiste étoile» im Mittelpunkt, im vergangenen Jahr war sie unter dem Motto «Prima Donna» natürlich ebenfalls für einen festen Platz auf dem Podium des KKL prädestiniert.
Und bereits Ende des Monats ist Barbara Hannigan wieder in der Schweiz. Dann leitet sie das Tonhalle-Orchester in Zürich. Gleichzeitig wird sie aber auch singen. Und beide Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen, das ist doch fast schon wieder ein akrobatischer Akt … Auf dem Programm stehen György Ligeti, Claude Debussy und Igor Strawinsky, aber, wie jetzt in Hamburg, auch Alban Berg mit sinfonischen Stücken aus «Lulu».
Dass sie auch Teile aus «Lulu» in Zürich dirigiert, ist für sie nur folgerichtig, nachdem sie «Lulu» auf der Bühne verkörpert hat. «Lulu ist ja so eine Art Architektin ihres eigenen Schicksals. Also macht es Sinn, wenn sie – beziehungsweise ich – diese Lulu-Suite auch dirigiert.» Hannigan liebt diese Musik, das betont sie immer wieder, und die Vorbereitungsarbeit darauf genauso. «Als Sängerin versuche ich, immer besser zu werden, und als Dirigentin befinde ich mich ebenfalls in einem ständigen Entwicklungszustand. Als Dirigentin versuche ich, wieder eine Anfängerin zu werden, wieder zurückzukommen, zum weissen leeren Blatt Papier, ohne vorgefasste Meinung … natürlich muss man eine Idee haben, aber innerhalb der Struktur dieser Ideen kann man doch völlig frei sein …!»
Ein Hauch von Exotik
Auch wenn die eine oder andere Frau sich inzwischen in der Männerdomäne der Dirigenten durchgesetzt hat, so haftet ihnen doch noch der Hauch einer gewissen Exotik an. «Exotisch, ja das ist es schon …» sagt Barbara Hannigan. «Aber ich bin ja nie dem normalen Pfad gefolgt. Ich bin also exotisch, egal, was ich mache. Es ist exotisch, dass ich singe und dirigiere, ich bin exotisch wegen des eher ausgefallenen Repertoires, das ich auswähle, wegen der Projekte, an denen ich mich beteilige und wegen der Leute, mit denen ich arbeite». Für sie ist es ganz normal, nicht den normalen Weg zu gehen …
Da passt sie hervorragend zu Teodor Currentzis, dem Griechen, der von Russland aus die Klassik aufmöbelt. Mit ihm tritt sie im Frühling in der Elbphilharmonie auf und wird singen. Das Dirigieren überlässt sie ihm. «Ich mag ihn sehr … er gehört zu jenen Musikern, mit denen ich wirklich gern zusammenarbeite. In Russland haben wir französische Barockmusik aufgeführt.» Diesmal sind es moderne Stücke. Das erste Mal in dem neuen, grossen Konzertsaal aufzutreten, ist auch für Barbara Hannigan ein Abenteuer. «Ich war kürzlich dort und habe mir Bruckners Achte unter Kent Nagano angehört, um ein Gefühl für den Raum zu bekommen. Ich glaube, für Sänger ist der Saal sehr angenehm. Und dass Sänger und Orchester in der Mitte sind, das gefällt mir!»
Inzwischen wird es Zeit für Barbara Hannigan, sich auf die Dernière von «Lulu» in Hamburg vorzubereiten. Sie macht noch ein paar Stimmübungen, vielleicht auch ein paar Kniebeugen, um stimmlich und körperlich geschmeidig zu sein. Dann heisst es vorläufig zum letzten Mal: Vorhang auf. Barbara Hannigan taucht noch einmal ganz tief ein in diese «Lulu» und erntet nach vier Stunden tosenden Applaus …
Barbara Hannigan
31.03.2017 tonhalleLATE
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