Wer beim Namen Bayreuth gleich an Richard Wagner und sein Festspielhaus denkt, verpasst mit dem markgräflichen Opernhaus eines der prächtigsten Theater und die aufregendsten, die schönsten Wunderwerke aus der Anfangszeit des Musiktheaters: die Barock-Opern.
Eigentlich weiss man gar nicht, wo man anfangen soll beim Schwärmen: bei der Musik, bei der Inszenierung oder beim Opernhaus. Egal, alles gehört zusammen in diesem Gesamtkunstwerk, das sich «Bayreuth Baroque» nennt und innert kürzester Zeit zu einem unvergleichlichen Anziehungspunkt für Freunde exzellenter alter Musik geworden ist. Ort des Geschehens: das prächtige Barocktheater mitten in der Stadt.
Vom Barock zum Grünen Hügel
Als Richard Wagner nach seiner Eheschliessung mit Cosima ein Theater suchte, um seine Werke aufzuführen, war es Cosima, die ihm den Tipp mit Bayreuth gab. 123 Jahre war das Theater damals schon alt. Erbaut wurde es zwischen 1744 und 1750 im Stil des italienischen Spätbarocks. Treibende Kraft war Markgräfin Wilhelmine, die aus Heiratsgründen vom preussischen Hof nach Bayreuth gekommen war. Diese Wilhelmine war eine Tochter des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. und die Schwester Friedrichs des Grossen, der Schloss Sanssouci erbauen liess und ein grosser Musikliebhaber war. Und vor allem: Wilhelmine war auch Kunstmäzenin und Komponistin. Ganz klar, dass Wilhelmine preussischen Glanz nach Bayreuth brachte.
Man kann sich Wagners Enttäuschung 1871 bei der Ortsbesichtigung vorstellen. Das war für seine Werke total ungeeignet, das pure Gegenteil dessen, was er gesucht hatte. Aber Bayreuth blieb er treu. Ein Neubau musste her. Nach einigen Querelen zwischen Wagner und seinem Mäzen, König Ludwig II. von Bayern, einigte man sich schliesslich auf den Bau des Wagnerschen Festspielhauses. Ein bisschen bayerische Gloria würde Bayreuth wohl guttun, mag König Ludwig sich gedacht haben und machte eine erkleckliche Summe Geldes locker. Es kam zur Grundsteinlegung und zur Feier des Tages dirigierte Richard Wagner im Barocktheater Beethovens neunte Sinfonie. Über drei Jahre wurde dann am Festspielhaus auf dem grünen Hügel gebaut.
Barockoper, Affentheater und Unesco-Welterbe
Und das Barocktheater schlummerte wieder vor sich hin. Es gab Theatergastspiele, Akrobaten, mal eine Oper, oder dressierte Affen zeigten ihre Kunststückchen. Richard Wagner diente das Haus noch als Probenbühne. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog die US-Militärregierung vorübergehend ein. Das Theater prunkte als Kulisse für verschiedene Filme und das Unesco-Welterbekomitee nahm es am 30. Juni 2012 in sein Register auf. «Es ist das einzige noch erhaltene Beispiel für Hofopern-Architektur, in dem die Kultur und Akustik der barocken Hofoper authentisch erlebbar sind», heisst es in der Begründung. Damit wurde es auch Zeit für eine fünfjährige Renovierung bis zur glanzvollen Wiedereröffnung am 12. April 2018. Gespielt wurde die Oper «Artaserse» von Johann Adolph Hasse, genau wie 1784 bei der Einweihung des Opernhauses.
Schliesslich gründete man das Festival «Bayreuth Baroque», das dieses Jahr zum fünften Mal stattfand. Geleitet wird «Bayreuth Baroque» von Max Emanuel Cenčić, der Countertenor, Regisseur und Intendant in Personalunion ist. Und dies höchst erfolgreich.
Sängerknabe, Countertenor, Intendant
Cenčić kennt sich aus. Geboren in Zagreb, bekam er seine musikalische Ausbildung bei den Wiener Sängerknaben und startete 1992 eine Solokarriere als Sopran, die er ab 2001 als Countertenor fortsetzte. Auch die Schweiz spielt eine gewisse Rolle in seiner Karriere: Als Cenčić 2003 am Theater Basel den «Nerone» in Monteverdis «L’incoronazione di Poppea» sang, wurde er von der Zeitschrift «Opernwelt» zum Nachwuchssänger des Jahres gekürt und die NZZ schwärmte in ihrer Kritik von «einem jungen Countertenor, der sich ganz selbstverständlich in seiner Stimmlage bewegt … grossartig die Beweglichkeit, reich die Farbenpalette». Das ist zwanzig Jahre her und seither hat Cenčić alle grossen Bühnen erobert – und das Publikum erst recht. Mittlerweile auch als Regisseur. Und als Intendant. «Bayreuth Baroque» scheint völlig auf ihn zugeschnitten zu sein und passt perfekt. Er ist die treibende Kraft hinter diesem von barocker Pracht sprühenden Festival
Wenn die Wagnerianer im Sommer den grünen Hügel verlassen haben und bevor Bayreuth im Herbst wieder in einen Dämmerschlaf versinkt, tummeln sich im September Barockfans aus aller Welt im prächtigen Bau. Dieses Jahr gab es zwei Opern auf Cenčićs Spielplan: «Orlando Furioso» von Antonio Vivaldi und «Ifigenia in Aulide» von Nicola Antonio Porpora. Ihre Uraufführung hatte diese «Ifigenia» 1735 an der Londoner Opera of the Nobility. Das war im gleichen Jahr, in dem Georg Friedrich Händel – ebenfalls in London – seine «Alcina» an der Academy of Music herausbrachte.
Für Konkurrenz war also gesorgt. Porpora hatte damals den Vorteil, die Kastratenstars Farinelli und Senesino verpflichten zu können, sicher zum Leidwesen Händels. Allerdings ist diese «Ifigenia» – im Gegensatz zur «Alcina» – anschliessend von der Bühne verschwunden und erst jetzt, fast 300 Jahre später, wieder aufgeführt worden. Mit Max Emanuel Cenčić als Agamemnon, der sich den Zorn der Göttin Artemis zugezogen hatte und seine Tochter Iphigenie opfern musste. Bei der Uraufführung 1735 war es der berühmte Senesino, der diese Rolle sang.
Mythos als Symptom des Wandels
«Ich möchte in meiner Inszenierung stark beim Mythos bleiben und auch Anleihen beim antiken Theater und der griechischen Tragödie nehmen», so Cenčić. In «Ifigenia» prallen gemäss Cenčić zwei verschiedene Weltsichten aufeinander: die Ideologie des Sehers Kalchas, die archaische, brutale Züge aufweise, stehe der Religionsauffassung des Achilles gegenüber, der nicht glauben will, dass die Götter so grausam sind, ein Menschenopfer zu verlangen. Aus diesem Konflikt sei letztlich die griechische Philosophie erwachsen, so Cenčić, nämlich die Lehre vom Denken und Hinterfragen. «Der Mythos ist hier also auch Symptom eines sozialen Sinneswandels, und genau das interessiert mich für meine Inszenierung.» Mit aktuellen Ereignissen der Weltgeschichte will Cenčić seine Inszenierung nicht in Verbindung bringen. «Ähnliche ideologische Kämpfe finden wir zu jeder Zeit und an jedem Ort. Wenn ich mich also mit dem Mythos beschäftige, dann kann ich seine gesamte Vielschichtigkeit zeigen, aber auch, wie relevant er für uns heute immer noch ist.»
Für das Publikum war es aber auch und vor allem ein barockes Spektakel erster Güte. Ein eher abstraktes Bühnenbild, das sich durch verschiebbare Wände und unterschiedliche Beleuchtung im Handumdrehen verändern lässt, und Kostüme, die an antike Darstellungen angelehnt sind. Das geht so weit, dass gleich zu Beginn der Aufführung Agamemnons Schiffsmannschaft mehr oder weniger nackt auf die Bühne gespült wird, ohne dass man dabei Effekthascherei vermuten würde. Es hat einfach seine Richtigkeit. Wie auf griechischen Darstellungen.
«Bestes Festival»
Neben hervorragenden Sängern und Sängerinnen, wie etwa dem Sopranisten Maayan Licht als Achilles oder Jasmin Delfs als Iphigenie und natürlich Max Emanuel Cenčić höchstpersönlich als Agamemnon, brillierte auch das französische Instrumental-Ensemble «Les Talens Lyriques» unter der Leitung von Christophe Rousset.
Die fast vier Stunden in dieser gleichermassen optischen wie akustischen Pracht verflogen nur zu schnell. Es gab wohl kaum jemanden im Publikum, der oder die nicht noch ein Supplément vertragen hätte.
Zum Glück gab’s zusätzliche Konzerte, Liederabende und ähnliche Veranstaltungen in Räumlichkeiten der Eremitage und der Schlossanlage in Bayreuth, zum Teil mit Kerzenlicht, oder Tafelkonzerte, bei denen wie anno dazumal beim Adel geschlemmt werden konnte. Zur Enttäuschung vieler ist ein Solokonzert des famosen Countertenors und Break-Dancers Jakub Orlinski krankheitsbedingt ausgefallen. Aber an seiner Stelle begeisterte der quirlige brasilianische Sopranist Bruno de Sà mit Charme, Temperament und Witz das Publikum, begleitet vom exzellenten Originalklang-Orchester «Il Pomo d’Oro»
Kein Wunder also, dass «Bayreuth Baroque» schon nach vier Jahren im Januar mit dem «Oper! Award» als «Bestes Festival» ausgezeichnet wurde. Preussens Glanz und Bayerns Gloria verschmelzen hier mit der Italianità des prächtigen Barocktheaters zu einem verführerischen Ganzen.