Was für ein Konzert! Und was für Musikerinnen!
Schauplatz ist die Kirche von Zweisimmen und damit einer der verschiedenen Konzert-Orte rings um Gstaad: schöne, malerisch gelegene, alte Kirchen, die einen grossen Anteil am Charme des Menuhin Festivals im Berner Oberland haben. Die Fundamente gehen aufs 12. Jahrhundert zurück, die drei Glocken der Kirche stammen aus dem 15. Jahrhundert. Forscher gehen davon aus, dass es sich hier um das älteste erhaltene Geläut im Kanton Bern handelt.
Jung und auch musikalisch experimentierfreudig sind dagegen die beiden Musikerinnen, die das Konzert ganz allein bestreiten: Sol Gabetta und Patricia Kopatchinskaja. Beide sind Stars der internationalen Musikszene und jede von ihnen ist schon alleine ein Publikumsmagnet. Kein Wunder also, dass das Konzert im Handumdrehen ausverkauft war. Trotz eines Programmes, das vom Publikum einiges verlangt.
In den fremden Gefilden Neuer Musik
Gespielt werden nicht gängige Stücke, sondern das Hauptgewicht liegt auf Zeitgenössischem, darunter gleich fünf Uraufführungen an diesem Abend. Eine musikalische Wundertüte! Hinzu kommt, dass die Kombination Cello und Violine eher ungewöhnlich ist. Aber Kopatchinskaja & Gabetta sind gleichzeitig Garanten dafür, dass es sich lohnt, unter ihrer Führung die Abenteuerreise in die fremden Gefilde der neuen Musik zu wagen.
Frischfröhlich wie Wandermusikanten marschieren die beiden in der Kirche ein: mit den Füssen stampfend, auf der Geige spielend, dazu noch ein Tambourin. Die Komposition des Franzosen Jean-Marie Leclerc stammt noch aus dem Barock.
Die Neuzeit bricht spätestens an, als Patricia Kopatchinskaja nicht ihre Noten auspackt, sondern das I-Pad aufs Pult legt. «Das erste Mal!», betont sie. Sol Gabetta breitet stattdessen ihre Notenblätter noch ganz konventionell aus. Jörg Widmann ist der erste zeitgenössische Komponist dieses Programms. Über Johann Sebastian Bach (auch er ein Neuerer zu seiner Zeit!) geht es zum ersten Auftragswerk des Abends: «Rizoma», von Francisco Coll, gewidmet Leo, dem kleinen Sohn von Sol Gabetta.
Patricia Kopatchinskaja übernimmt auch gleich die Moderation des Abends und erzählt, wie es überhaupt zu diesen Neu-Kompositionen gekommen ist. «Wir haben social media und Internet benutzt! Im Frühling haben wir Komponisten aufgerufen, Stücke für uns zu schreiben. 80 Werke haben wir bekommen!» Anstrengender als das Lernen der Stücke war zunächst die Auswahl. Drei Komponisten haben sich dabei durchgesetzt: Arieh Chrem, ein Peruaner, Marcin Markowicz aus Polen und Evgeni Orkin aus der Ukraine. Fremd und ungewohnt klingen die verschiedenen Stücke, deren verbindende Elemente einerseits nur der gleiche Zeitraum ist, in dem sie komponiert wurden, und andererseits die Instrumente: Cello und Geige. Aber das Publikum zeigte sich neugierig und willig und liess sich gern auf die zum Teil anstrengenden Stücke ein. Anstrengend für die beiden Musikerinnen, aber eben auch fürs Publikum. Gleichzeitig sind diese kurzen Stücke eine Schule des Hörens, des Sich-Hineinhörens.
Eine der Uraufführungen stammt übrigens von Kopatchinskaja persönlich. Es ist wie ein Dialog: redselig, dann plötzlich gehässig, schnippisch, auch versöhnlich, belustigt, geschwätzig, ein bisschen streitsüchtig und am Schluss doch irgendwie ein Herz und eine Seele. Das klingt spannend und das Publikum hört dem musikalischen Zwiegespräch gespannt und amüsiert zu. Und es klatscht am Schluss begeistert über ein Konzert, das voller Überraschungen war und manch einem die Neue Musik tatsächlich nähergebracht hat.
Alle Schweizer können jodeln
Unkonventionell war am Abend zuvor auch die Kombination Jodelchörli plus Klavierkonzert plus Zürcher Kammerorchester … Zusammengezählt ergibt das ein höchst erfreuliches Resultat. Das Jodlerinnenchörli stimmte das Publikum mit drei Liedern auf Schweizerisches ein, das dann mit einer «Streichersinfonie mit dem Schweizerlied» von Felix Mendelssohn weitergeführt wurde. Passt doch! «Alle Schweizer können jodeln», hatte der junge Felix Mendelssohn seinem Lehrer geschrieben, als er 1822 zum ersten Mal durch die Schweiz reiste. Auf Schweizerreise war schliesslich auch Mozart, wobei sich das Klavierkonzert, das Rudolf Buchbinder dann spielte, wohl weniger auf die Schweiz bezog.
Wenn es in Gstaad morgens auf zehn Uhr zugeht, ist sozusagen Rushhour für die Musiker. Allein, zu zweit oder in kleinen Grüppchen strömen sie mit ihrem Instrument unterm Arm zur Probe. Die einen nach links, die anderen nach rechts. Es herrscht Gegenverkehr. Die einen angespannt und mit sichtbarem Ehrgeiz, die anderen mit der souveränen Lockerheit von Profis. Die einen strömen zur Probe des Amateurorchesters ins Gemeindehaus, die anderen zur Academy der Jung-Dirigenten ins Festzelt.
Once in a lifetime
Seit zehn Jahren gibt es das Amateurorchester mittlerweile, wobei die Amateure schon ziemlich professionell klingen. «Die meisten spielen auch zuhause in einem Amateurorchester», sagt Daniel Kellerhals, der Projektleiter. «Und viele kommen jedes Jahr wieder, um eine Woche zu proben. Ich sage immer, es ist dieses Gefühl ‘once in a lifetime’, einmal im Leben auf der richtig grossen Bühne zu spielen, das sie anspornt. Denn am Schluss spielen sie vor Publikum im Festzelt.»
Der Dirigent ist zwar noch jung, aber ein Profi: Kevin Griffith, der weiss, wie man auch Amateure professionell leitet. Und schon geht’s los. 90 Musiker und Musikerinnen beginnen mit der Schottischen Sinfonie von Felix Mendelssohn. Ein bisschen harzt es zunächst, Griffith korrigiert, wiederholt, bremst oder treibt an … «Wunderbar», lobt Griffith bald darauf, «es hört sich doch schon nach Mendelssohn an …». Bis zum Konzert ein paar Tage später wird es vermutlich noch viel mehr nach Mendelssohn klingen.
Künftige Stardirigenten?
Nach Mozart klingt es stattdessen im Festzelt. Dort ist es umgekehrt: Das Orchester besteht aus Profis, die wechselnden Jung-Dirigenten sind Absolventen der Conducting Academy. Alle haben ihre Musikausbildung bereits beendet und bekommen hier Gelegenheit, ihre Fähigkeiten mit einem grossen Orchester zu testen. Ein bisschen angespannt sind die meisten, etwas steif in den Bewegungen, etwas ängstlich auch. Zu schnell kann ein Orchester entgleiten … Scharf beobachtet werden sie in den Anfangsproben von Johannes Schlaefli, selbst Dirigent und Professor an der Zürcher Hochschule der Künste. Eigentlicher Leiter der Academy ist Jaap van Zweden, der neue Chef des New York Philharmonic. Die Proben sind öffentlich, wer will, kann sich hineinsetzen, zuschauen, zuhören und werweissen, wer es wohl irgendwann zum Stardirigenten schafft.
«Les Alpes» lautet das Motto des Menuhin-Festivals dieses Jahr und das Thema ist äusserst ergiebig. Man staunt, was es so alles an Alpenländischem in der Klassik gibt: Ländler bei Schubert, die Thuner Sonate bei Brahms, Wagner auf dem Berge, die Alpensinfonie von Richard Strauss, die Alpen in italienischen Opern und so weiter … auch dies irgendwie eine musikalische Wundertüte.
Gstaad Menuhin Festival
bis 1. September 2018
www.gstaadmenuhinfestival.ch