Das Büro passt. Nicht zu gross, mit Blick auf die Seitenfassade des Zürcher Opernhauses und Musik liegt in der Luft. Unhörbar. Unsichtbar. Kein Wunder: Vorläufig ist es noch das Büro von Fabio Luisi, dem musikalischen Leiter des Opernhauses. Aber mitten drin sitzt jetzt Gianandrea Noseda. Er ist der Neue. Der nächste Generalmusikdirektor ab 2021/22. «Es ist noch nicht meins!» sagt er gleich und lacht. Man weiss nicht, ob er das Büro meint oder das Philharmonia Orchester, mit dem er das nächste Konzert vorbereitet. Vielleicht beides.
Gianandrea Noseda ist gut gelaunt. Die Probe am Vormittag mit dem Philharmonia Orchester hat ihn offensichtlich beflügelt. Fühlt er sich schon ein bisschen heimisch hier? «Ich mag die Stadt, ich mag dieses Opernhaus und ich mag die Abenteuerlust, die in diesem Haus herrscht.» Es gefalle ihm, weil er auch selbst neugierig sei auf die verlockenden Möglichkeiten, die sich hier bieten könnten.
Nächstes Ziel: Ring des Nibelungen
Erste Erfahrungen mit dem Zürcher Opernhaus und seinem Orchester hat Noseda bereits mit zwei ganz unterschiedlichen Produktionen gemacht: Vor gut zwei Jahren hat er die Neuproduktion von Sergej Prokofjews Oper „Der feurige Engel“ geleitet und die Wiederaufnahme von Giuseppe Verdis „Macbeth“. „Das Orchester war grossartig: hohe Qualität und grosse Aufnahmebereitschaft.“ Als dann das Angebot kam, in Zürich Generalmusikdirektor zu werden, sagte Noseda schon nach fünf Tagen zu.
Welche Ziele setzt er sich denn nun für seine künftige Arbeit in Zürich? „Wenn man an ein so erfolgreiches Haus kommt wie das Zürcher Opernhaus, das zu den besten der Welt gehört, dann muss man nichts ändern. Aber ich möchte meine Erfahrungen einbringen, ich möchte motivieren, begeistern und ein paar Ideen beisteuern. Mein wichtigstes Projekt wird Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ sein, in der Regie von Andreas Homoki. Daneben wird es im Repertoire etwas Italienisches und Russisches geben. Ich denke, ich werde vier bis viereinhalb Monate im Jahr in Zürich verbringen. Das erlaubt mir, neben der Oper auch ein paar philharmonische Konzerte zu geben.“
Gibt es da eine Präferenz? Welche Liebe ist denn nun grösser? Die zur Oper oder doch zum Konzert? „Beide sind gleich gross!“, sagt er spontan. „Wenn ich an einer Oper arbeite, liebe ich die Oper über alles. Und wenn ich mich mit einer Sinfonie beschäftige, liebe ich nur die Sinfonie. Aber wenn es zu viel Sinfonie ist, vermisse ich die Oper. Und umgekehrt … Nach zwei Monaten mit Sinfonien sehne ich mich nach Gesangsstimmen. Das hält mich frisch!“
Aber in der Oper geschieht doch so vieles auf der Bühne, da kann man sich doch als Dirigent gar nicht voll auf die Musik konzentrieren …? „Das stimmt“, sagt Noseda. „Mein Ziel ist es, jene Präzision in die Oper zu bringen, in der das Optische, das Stimmliche und das Technische mit der Musik zu einer Einheit verschmelzen. Das ist eine grosse Herausforderung. Aber wenn es gelingt – was nicht so oft der Fall ist – dann berührt man sozusagen das Paradies mit seinem Finger …“
Zuhause in der Welt und in Stresa
Gianandrea Noseda ist Mitte fünfzig und stammt aus Mailand. Musikalisch ist er allerdings inzwischen weit über die Grenzen Italiens hinaus zuhause und in aller Welt ein überaus gern gesehener Gast-Dirigent. Ausserdem ist er in Washington Chef des National Symphony Orchestras am Kennedy Center, das er auch weiterhin leiten wird. Und die New Yorker Met, die Mailänder Scala, Covent Garden in London oder die Salzburger Festspiele werden wichtige Stationen für ihn bleiben.
Und dann hat er noch sein eigens Festival und dies in unmittelbarer Nähe der Schweiz: das Stresa Musik Festival am Lago Maggiore. «19 Jahre mache ich das schon …“, sagt er lachend und staunt selbst über die lange Zeit. „Ich habe gute Mitarbeiter, da geht das. Am Anfang habe ich praktisch alles selbst gemacht. Natürlich fehlt es immer am Geld, allzu experimentierfreudig dürfen wir also nicht sein. In Stresa bieten wir einen Mix aus verschiedenen Musikstilen vom Barock bis ins 20. Jahrhundert, mit Jazz Ballett und auch Literatur. Aber das Festival ist schön, die Konzertorte auf der Isola Bella oder in anderen Palazzi und Kirchen sind prächtig, die Künstler hervorragend und mit vielen von ihnen bin ich befreundet. Wir teilen die gleichen Ansichten über Musik. Und wenn man nachts mit dem Schiff zu einem Konzert fährt, ist es magisch …!“ schwärmt Noseda. Dass er nur wenige Kilometer davon entfernt auch seinen Wohnsitz hat, kommt ihm natürlich gelegen. Und auch Zürich sei von dort aus in nur drei Stunden erreichbar, freut er sich.
Eine eigentliche Lieblingsmusik, sagt er, habe er nicht. „Aber natürlich gibt es Stücke, die mich besonders interessieren. Mich fasziniert die Musik, die in Zeitenwenden komponiert wurde. Also zum Beispiel die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor dem ersten Weltkrieg. Die Musik war damals so kraft- und spannungsvoll und sehr dramatisch. Ich mag auch die Musik zwischen Klassik und Romantik: der späte Schubert und Beethoven, die versucht haben, etwas Neues zu finden. Ich liebe Bach, er ist ein grossartiger Komponist, aber ich mag gerade auch die Musik zwischen Bach und Mozart. Also die Bach-Söhne. Diese Musik ist spektakulär. Oder der späte Haydn, der späte Brahms, der junge Mendelssohn …“ Noseda möchte gar nicht mehr aufhören, Namen aufzuzählen. Er ist eindeutig in seinem Element.
Kein Leben in Schwarz-Weiss
Aber was ist Musik eigentlich. Wie kommt es, dass sie so verführerisch und unwiderstehlich ist? Wie definiert Noseda Musik? «Musik ist der Farbton unserer Seele, unseres Geists, unserer Träume … wir können ihr ebenso wenig entrinnen wie unseren Träumen. Musik bringt Farbe in unser Leben, wir wollen ja kein Leben in Schwarz-Weiss. Vor allem die Musik der grossen Meister ist ausgesprochen farbig. Und wir sehen, dass die Menschen in allen Zeiten genau gleich geliebt, gehasst, gelitten oder geweint haben. Das Leben ändert sich, die Gefühle und Bedürfnisse der Menschen aber nicht.“
Kurz vor Weihnachten hat Gianandrea Noseda auch das erste Mal das Tonhalle-Orchester geleitet. Wo sieht er den Unterschied zum Opernhaus-Orchester? „Jedes hat seinen eigenen Charakter, seine eigene Persönlichkeit. Es war wunderbar mit dem Tonhalle-Orchester. Heute Morgen bei der Probe mit dem Philharmonia Opernorchester hat mir aber auch gefallen, dass sie sich, wegen der Sänger, stärker nach dem Taktstock richten, nach der Struktur und der Architektur der Musik. Aber ich finde, Zürich kann wirklich stolz sein auf die beiden Orchester, die auf verschiedene Weise auf höchstem Niveau spielen.“
So hofft Noseda auch auf einen künftigen Austausch. Er würde gern hin und wieder in der Tonhalle dirigieren und den neuen Tonhalle-Chef Paavo Järvi dafür ins Opernhaus einladen. „So können wir in Sachen Qualität wetteifern …! Wir sind ja schon seit fast zwanzig Jahren befreundet.“
Gute Aussichten für eine musikalischen Brückenschlag zwischen Tonhalle und Opernhaus.
19. Januar 2020, Opernhaus Zürich: Gianandrea Noseda, Philharmonisches Konzert, Schubert / Tschaikowski / Mendelssohn