Im vergangenen August hatte Mursi die Macht und den Einfluss des Militärs beschränkt. Die Gerichte blieben nun als letzte staatliche Macht, die die Machtfülle des Präsidenten einschränken konnte. Mit der neuen Erklärung hat nun Mursi auch den Einfluss der Gerichte zurückgestuft.
Die Richter waren die Richter aus der Zeit von Mubarak. Morsi war mehrmals mit ihnen zusammengestossen. Zuerst, als er unmittelbar nach seiner Wahl Mitte Juni versuchte, das aufgelöste Parlament wiedereinzusetzen. Dies hatten ihm die Richter verboten. Ein zweites Mal kam es zum Eklat, als er im vergangenen Oktober versuchte, Abdel Maguid Mahmud abzusetzen. Er war der Staatsanwalt aus der Mubarak-Zeit. Mahmud hatte sich geweigert, sein Amt aufzugeben. Er erhielt Unterstützung durch viele der Richter und Kollegen. Mursi sah sich in der Folge gezwungen, ihn im Amt zu belassen.
In Kairo war es jedoch Ende Oktober zu Unruhen gekommen. Immer mehr Polizeioffiziere waren freigesprochen worden. Sie waren angeklagt, an den Erschiessungen von Demonstranten während der Anti-Mubarak-Aufstände beteiligt gewesen zu sein – oder sie angeordnet zu haben. Dem Staatsanwalt wurde vorgeworfen, er formuliere die Anklagen derart, dass die Richter die Angeklagten frei sprechen mussten. Mursi ergriff die Gelegenheit, um sich selbst als vorübergehend über den Gerichten stehend zu erklären. Er setzte den ihm unliebsamen Staatsanwalt ab und ernannte und vereidigte einen neuen.
Möglicherweise hat ihn der aussenpolitische Erfolg, den er in den letzten Tagen in den Verhandlungen über Gaza verbuchen konnte, dazu ermutigt, nun zuzuschlagen. Sein Dekret enthält auch einen Passus, der sagt: "Der Präsident ist ermächtigt, alle Massnahmen zu ergreifen, die er als passend ansieht, um die Revolution zu bewahren sowie die nationale Einheit und die nationale Sicherheit zu gewährleisten." Der neue Staatsanwalt heisst Talaat Ibrahim Abdallah. Er gehört zur Gruppe der Richter, die unter Mubarak vergeblich versucht hatten, die Unabhängigkeit der Richter zu bewahren, indem sie 2005 und erneut 2009 gegen Mubarak protestierten und demonstrierten. Mursis Vizepräsident, Mahmud Mekki, und der Justizminister der gegenwärtigen Regierung, Ahmed Mekki, gehören zur gleichen Gruppe. Der neue Staatsanwalt hat angekündigt, alle Prozesse würden neu aufgerollt. Auch die bereits Freigesprochenen müssten erneut vor den Richter treten. Selbst Mubarak werde erneut beurteilt. Der frühere Präsident war zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Immunität für die Verfassungsversammlung
Die "Konstitutionelle Erklärung" des Präsidenten verschafft nicht nur ihm selbst Immunität gegenüber der richterlichen Gewalt. Sie bestimmt auch, dass die gegenwärtig amtierende 100-köpfige Verfassungsversammlung die gleiche Immunität geniesst. In dieser Versammlung sitzt eine Mehrheit von Muslimbrüdern und deren Sympathisanten. In den bereits ziemlich weit fortgeschrittenen Diskussionen über die kommende Verfassung haben sie ihre Vorstellungen darüber, wie diese Verfassung aussehen solle, weitgehend durchgesetzt. Da sie in der Mehrheit sind, haben sie die Einwände der eher säkular ausgerichteten Minderheit zurückgewiesen. Dies hat dazu geführt, dass ein Grossteil der säkularen Minderheit die Versammlung verliess, um ihren Protest gegen die "Diktatur der (muslimischen) Mehrheit" zum Ausdruck zu bringen.
Die Versammlung war zudem Gegenstand mehrerer rechtlicher Klagen gewesen, die vor dem Verfassungsgericht hängig waren. Sie hätten möglicherweise zu einer Auflösung der Verfassungsversammlung geführt. Doch dies ist nun durch das Machtwort Mursis ausgeschlossen - falls dieses Machtwort bestehen bleibt.
Im gleichen Atemzug gewährt die neue Erklärung Mursis der Verfassungsversammlung auch zwei Monate mehr Zeit, um ihren Verfassungsvorschlag auszuarbeiten. Dieser muss nun erst im kommenden Februar statt im Dezember vorliegen. Dann soll er dem Volk unterbreitet werden. Wird er angenommen, hätten Parlamentswahlen zu folgen, und nach diesen würde Präsident Mursi sich der richterlichen Gewalt wieder unterordnen.
Eine "islamische" Verfassung?
Natürlich fürchten die säkular und liberal ausgerichteten Kreise, dass die Verfassung auf diesem Wege allzu "islamisch" ausfallen werde. Sie stellen sich deshalb auf die Seite von Mubaraks Richter – und damit gegen Mursi. Die Opposition gegen den "Staatsstreich" umfasst einen Grossteil des richterlichen Standes, einschliesslich der Anwälte und Justizbeamten. Die Richter drohen mit einem Boykott der Gerichte. Der Vorsitzende der Vereinigung der Advokaten fordert die Auflösung der Verfassungsversammlung, die ihre Legitimität verloren habe. Er verlangte auch den Beginn eines nationalen Dialogs über die Zukunft Ägyptens.
Vielfältige Opposition gegen Mursi
Zu den Richtern gesellen sich die säkular ausgerichteten, die liberalen Gruppierungen und die Konservativen, die unter Mubarak prosperierten. Diese letzten umfassen grosse Teile der heute noch reichen Oberschichten. Sie sind in der Lage, die mehr oder weniger berufsmässigen Schläger zu mobilisieren und zu entlöhnen, über welche die ägyptische Rechte verfügt.
Auch die revolutionäre Jugend wendet sich gegen den "neuen Pharao" Mursi. Sie erklärt, die Revolution habe nicht stattgefunden, um einen autoritären Staatschef durch einen anderen, noch autoritäreren zu ersetzen.
All diese Kräfte zusammen können den Anspruch erheben, dass sie ungefähr für die Hälfte des ägyptischen Volkes sprechen, nämlich für die in den Präsidentenwahlen knapp unterlegenen 48,27 Prozent. Die Schwäche dieser Hälfte liegt darin, dass sie in unzählige, teils bitter verfeindete Teilsektoren gespalten ist. Sie umfasst im Zeichen des Säkularismus sowohl die früheren Anhänger und Profiteure des Mubarak-Regimes, zusammen mit der Mehrheit der Richter, die man zur gleichen Gruppe zählen kann, aber auch das gesamte Spektrum der liberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen, kommunistischen, nationalistischen grösseren und kleineren Parteien sowie die teils unfassbaren Revolutionsgruppen. Nur wenn diese heterogene Opposition sich zu gemeinsamen Aktionen zusammenraufen kann, könnten sie für Mursi gefährlich werden und sein Machtwort zurückweisen.
Rettung der Revolution?
Mursi und seine Sprecher erklären ihrerseits, die neue Machtfülle des Präsidenten diene dazu, "die Revolution zu retten". Dies trifft teilweise zu. Denn die Richter, deren Machtfülle jetzt eingeschränkt wird, gehörten zu den Würdenträgern des Mubarak-Regimes. Auch nach seinem Sturz kämpften sie für die Mubarak-Freunde und Mubarak-Täter.
Reformwiderstand der Richter
Zwar ist man sich im nachrevolutionären Ägypten einig, dass das korrupte Polizei- und Gerichtswesen reformiert werden muss. Beide, Polizisten und Richter, hatten stets zusammengearbeitet. Doch Mursis Kritiker sind der Ansicht, der Präsident habe jetzt den falschen Weg eingeschlagen, wenn er sich selbst als allmächtig erkläre. Die Anhänger Mursis können darauf entgegnen, auf welchem Weg denn Reformen zustandekommen sollten, solange die Gerichte dafür sorgten, dass die bisherigen bürokratischen Machthaber nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und weiter auf ihren Posten verblieben.
Strassenkämpfe für und gegen Mursi
Am Freitag gab es in Kairo und andern Städten sowohl Demonstrationen für als auch gegen Mursi. Die Parteilokale der Bruderschaft in Ismailiya und in Port Said wurden angezündet. In Alexandria wurden sie gestürmt und geplündert. "Mursi ist Mubarak", riefen die Demonstranten.
Die Gegendemonstranten, die für Mursi auftreten, dürften in erster Linie der Bruderschaft angehören. Sie sollen nach den Aussagen ihrer Gegner in Bussen in die Städte transportiert worden sein. Mursi sprach vor einer Gruppe von ihnen und erklärte, er habe die Macht nicht übernehmen wollen, doch habe er sich gezwungen gesehen, dies zu tun, "um die Revolution zu retten".
"Wir marschieren voran," sagte er auch, "mit der Hilfe Gottes. Niemand kann sich uns in den Weg stellen! Ich komme meinen Pflichten nach, nachdem ich jedermann konsultiert habe. Der Sieg gehört jenen, der einen klaren Plan besitzen. Ich habe einen solchen!"