Soeben hat das Obergericht von Kairo entschieden, der Oberstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud sei zu unrecht entlassen worden und müsse wieder in Amt und Würden zurückkehren. Abdel Meguid Mahmoud ist der Oberstaatsanwalt aus der Zeit Mubaraks, den Mursi bereits zweimal abgesetzt hatte. Zum ersten Mal anfangs Oktober 2012, als Mursi ihn zum Botschafter im Vatikan ernennen wollte.
Das Lavieren des Präsidenten
Die Absetzung stiess bei allen Gerichtsbehörden auf Widerstand, weil er gegen die Unabhängigkeit der Gerichte verstosse. Mursi musste seinen Befehl zurücknehmen. Die zweite Absetzung kam am 22. November 2012, als Mursi sich selbst als über den Richtern stehend erklärte.
Der Präsident sah sich bald darauf, am 8. Dezember, gezwungen, diesen Schritt zurückzunehmen und tat dies teilweise, indem er erklärte, es habe sich nur um eine zeitgebundene Massnahme gehandelt, die nun zu Ende gekommen sei. Allerdings fügte er hinzu, die Massnahmen, die er inzwischen getroffen habe, blieben bestehen. Deshalb blieb Abdel Meguid Mahmoud entlassen. Doch nun soll er wieder eingesetzt werden. Ob der Präsident gegen diesen Beschluss beim Kassationsgericht Rekurs einlegen wird oder nicht, ist noch nicht bekannt.
Der Mann Mubaraks und der Mann Mursis
Nach der Entlassung von Abdel Meguid Mahmoud stellte Mursi einen Generalstaatsanwalt ein, der ihm passte, weil er den Muslimbrüdern nahe steht. Dies ist Talat Abdullah. Er nahm die Ernennung an, doch kam er unter starken Druck von Seiten seiner Richter-Kollegen, der ihn dazu brachte, schon nach wenigen Tagen zurückzutreten. Dann übte die Regierung ihrerseits Druck aus und veranlasste ihn, seinen Rücktritt zurückzunehmen.
Er kam in der vergangenen Woche einmal mehr unter scharfe Kritik vonseiten der Gegner der Muslimbrüder, weil er eine Untersuchung gegen fünf bekannte Blogger und politische Aktivisten angeordnet hatte, die zu den grossen Namen der ägyptischen Revolution gehören. Seine Anklage lautete auf "Aggression des ägyptischen Volkes und Unruhestiftung im Falle des Hauptquartiers der Muslimbrüder".
Vor dem Hauptsitz der Muslimbrüder
Dort, auf dem Muqattam Platz, finden zur Zeit die Hauptstrassenschlachten statt. Die säkulare Opposition hat sie dorthin verlegt, weil sie behauptet, im Hauptquartier der Muslimbrüder sitze die wahre Macht, die Ägypten heute beherrsche. Mursi sei ihr blosses Instrument. Das Hauptquartier ist schon bei früheren Gelegenheiten in Band gesteckt worden. Seither suchen die Aktivisten und Strassenkämpfer der Brüder, es zu verteidigen.
Auch die Polizei spielt dabei eine Rolle, doch beide Seiten, die Angreifer und die Verteidiger, trauen ihr nicht und nehmen lieber das Gesetz des Handelns in ihre eigene Hand. Dies hat bereits zu einigen Toten und über 200 Verletzten geführt.
Zwei Oberste Staatsanwälte?
Es ist unklar, ob der pro-Mursi-Generalstaatsanwalt noch im Amt ist oder nicht. Ein Gerichtsurteil liegt nun vor, dass sein Vorgänger, der Generalstaatsanwalt, den Mubarak eingesetzt hatte, wieder auf seinen Posten zurückkehren soll. Doch es gibt auch ein Urteil des Administrativ-Gerichtes, das entschieden hat, es sei nicht zuständig, um darüber zu befinden, ob Talat Abdullah, der Staatsanwalt Mursis, abzusetzen sei oder nicht.
Ob das wohl bedeutet, dass Ägypten gegenwärtig zwei Oberste Staatsanwälte besitzt, einen für Mursi und einer gegen ihn? Wenn es zwei Oberste Staatsanwälte gibt, welcher ist dann wohl der Alleroberste? Oder können sie nebeneinander bestehen ?
Die Macht der Staatsanwälte
Scherz beiseite, die Person des Oberstaatsanwaltes in einem Land wie Ägypten ist noch viel gewichtiger als in einem Land, in dem volle Rechtssicherheit besteht. Von ihm hängt es ab, ob ein Bewohner des Landes gerichtlich verfolgt wird oder nicht. Die Mühle, in die er in diesen Falle gerät, ist umso gefährlicher für ihn, als sie nur teilweise nach rechtlichen Grundsätzen funktioniert.
Andere Kräfte sadistischer (im Falle von Folterungen), politischer, persönlicher und sogar finanzieller Natur, über die der Angeschuldigte und seine Familie nur geringen Einfluss ausüben, spielen mit hinein, um sein weiteres Geschick zu bestimmen.
Verbot der Muslimbrüder?
Weitere Aspekte des juristischen Machtkampfes der zur Zeit vor sich geht sind: Das Oberste Verwaltungsgericht hat den 23. April als den Termin angesetzt, an dem über eine Klage von mehreren Rechtsanwälten befunden werden soll, die das Verbot der Muslimbrüder fordert. Eine Richterkommission hat empfohlen, dieser Klage stattzugeben. Sie beruht auf einem Prozess gegen die Muslimbrüder, der vor 23 Jahren von einem ihrer ehemaligen Führer, Telemsani, gegen die Bruderschaft angestrengt wurde. Dies war in einem Streit um ihre politische Führung geschehen.
Die Bruderschaft, die ja in der Tat unter Mubarak ohne rechtliche Grundlage existierte, hat sich inzwischen beim ägyptischen Sozialministerium als NGO, das heisst Nichtregierungsassoziation, einschreiben lassen und sieht diese Einschreibung als ihre formalrechtliche Grundlage an.
Die Bruderschaft klagt ihrerseits
Weiter: Die Bruderschaft hat eine gerichtliche Klage in Kairo gegen 169 Personen erhoben, die sie bezichtigt, in die Gewaltaktionen impliziert zu sein, die sich in der Hauptstadt und in vielen Provinzen gegen ihre Parteisitze gewandt hatten. Unter den Angeklagten befinden sich auch Parteiführer der "säkularistischen" Opposition. Sie dürften der Aufhetzung zur Gewalt angeklagt sein.
Die Klage kam, nachdem Mursi am vergangenen Dienstag eine Rede gehalten hatte, in der er von "Massnahmen", sprach, die "zum Schutz der Nation" getroffen werden müssten. Mursi erklärte: Alle Parteien hätten dafür zu sorgen, dass sie nicht zur Deckung von Personen dienten, die gewalttätig würden und Unruhe stifteten. Wenn sie diese deckten, seien sie "Partner in den Verbrechen". Er fügte hinzu: Die Übeltäter rechneten mit der Schwäche des Staates, "doch die Staatsapparatur ist im Begriff sich zu erholen, und sie kann Gesetzesbrecher abschrecken!"
Demonstrationen nun straff reguliert
Der ägyptische Senat, der als Ersatz für das geschlossene Parlament wirkt, hat soeben ein "Demonstrationsgesetz" verabschiedet. Dieses legt in Paragraph 1 nieder, dass Demonstrieren erlaubt sei. Doch es schreibt dann in den folgenden Paragraphen Bedingungen für Demonstrationen fest, die es dem Staat und seinen Repräsentanten ermöglichen, Demonstrationen weitgehend, wenn nicht total, zu unterbinden.
So fordert Pargragph 6, dass drei Tage vor Demonstrationen Gesuche eingereicht werden müssten, damit Demonstrationen erlaubt würden. Dies mit genauer Angabe von Ort, Zeit und beteiligten Demonstranten. Nach Paragraph 8 kann die Polizei gegen den Plan von Demonstrationen beim Innenministerium Einspruch erheben, und die Behörden können daraufhin einen anderen Ort und eine andere Zeit für die geplante Demonstration ansetzen.
Paragraph 9 erlaubt es den Provinzgouverneuren, d.h. den Vertretern des Innenministeriums in den einzelnen Provinzen, Ausmass und Ort der Demonstrationen zu bestimmen. Paragraph 17 legt Zuchthaus und Geldstrafen von mindestens 50 000 ägyptischen Pfund für Zuwiderhandelnde fest.
Nun Konfrontationen statt Demonstrationen
Damit hat sich der Staat Mursis ein Instrument geschaffen, das ihm die rechtlichen Mittel gibt, Demonstrationen zu untersagen. Allerdings ist die Lage im Lande heute derart, dass der Staat schwerlich überall in der Lage sein dürfte, seine Legalität durchzusetzen. In den Städten am Suezkanal, Port Said und Ismaliyia, wurde der Notstand ausgerufen und die Armee aufgefordert, ihn durchzusetzen.
Doch die Bevölkerung kümmerte sich wenig darum und erklärte sogar "zivilen Ungehorsam". Die Armee ging nicht gegen die Bevölkerung vor, die Polizei war eingeschüchtert oder unwillig etwas zu tun, und die Armee beschränkte sich darauf, das Funktionieren des Suezkanals sicherzustellen.
Nur noch eine von drei Devisenquellen
Dieser ist die letzte grosse Devisenquelle Ägyptens, nachdem der Tourismus stark gelitten hat und fast die ganze Erdöl- und Gasproduktion in Ägypten selbst benötigt wird. Die ägyptischen Revolutionäre, zu denen auch als die aktivsten Strassenkämpfer die Fussballaktivisten und eine anarchistisch ausgerichtete Gruppe von Schwarzverhüllten gehören, werden in den kommenden Tagen ohne Zweifel versuchen, das neue Demonstrationsgesetz zu diskreditieren, indem sie sich nicht daran halten. Die Gefahr ist, dass dies zu einer weiteren Anhebung der Gewalt bei den Demonstrationen führt.
Manche Stimmen reden schon heute davon, dass am Ende die Armee einschreiten müsse, es bleibe ihr gar keine andere Wahl, und es fehlt nicht an Leuten, die offen ihre Hoffnung aussprechen, dass dies bald geschehe.
Wahlen vielleicht im Oktober
Mursi hat auch soeben erklärt, er erwarte nun, dass die Parlamentswahlen im kommenden Oktober durchgeführt werden könnten. Zweieinhalb Monate, so sagte er, werde es sicher brauchen, bis das neue Wahlgesetz fertiggestellt sei. Die Wahlen waren auf April angesetzt. Doch das ägyptische Oberste Verfassungsgericht hatte das Wahlgesetz zum zweiten Mal als unkonstitutionell erklärt, und es muss nun neu geschrieben werden. Dass es noch einmal als unkonstitutionell verurteilt werden könnte, ist nicht ganz auszuschliessen.
Der Machtkampf geht weiter
Der Machtkampf zwischen den Richtern aus der Zeit Mubaraks und dem Präsidenten aus den Kreisen der Muslimbrüder ist derart, dass man von beiden Seiten alle denkbaren Manöver, Seitenhiebe und Dolchstösse zu gewärtigen hat. Der Zustand der Parlamentslosigkeit schwächt Mursi und sein Regime. Doch er schwächt auch Ägypten, insbesondere seine innere Sicherheit und mit ihr seine Wirtschaft. Die gefährliche Destabilisierung des Landes scheint beiden ineinander verbissenen Streitparteien weniger wichtig zu sein als ihre Hoffnung, ihren Gegner zu Fall zu bringen.