Fast jeden zweiten Tag fällt im Iran eine Frau einem Mord durch Familienangehörige zum Opfer. Trotz breiter Empörung über diese Femizide stärkt das Regime gesellschaftliche Strukturen, die diese befördern – etwa durch milde Strafen für die Täter.
Von Mahboobeh Kalami*
Razieh war erst 20 Jahre alt, als sie von ihrem Bruder ermordet wurde. Die Mutter eines zweijährigen Kindes hatte sich kurz zuvor von ihrem Ehemann scheiden lassen. Razieh, die mit 15 von ihrer Familie verheiratet worden war, wollte nach der Scheidung keine weitere arrangierte Ehe mehr eingehen. Doch ihre Familie wollte sie als geschiedene Frau weder aufnehmen noch ihr ein eigenständiges Leben zugestehen. Raziehs Widerstand kostete sie das Leben.
Die Ermordung der jungen Frau ereignete sich im Herbst 2023 in der Provinz Luristan im Westen des Iran. Über das Schicksal des Täters wurde nicht berichtet. Ob der Bruder von Razieh im Gefängnis sitzt oder auf freiem Fuss ist, darüber gibt es keine Informationen.
Statistiken zufolge haben Femizide in iranischen Familien in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Teheraner Tageszeitung Shargh hatte bereits Ende 2023 berichtet, dass 2022 und 2023 offiziellen Angaben zufolge 165 Frauen im Iran sogenannten «Ehrenmorden» zum Opfer gefallen seien. Diese wurden demnach von Vätern, Brüdern, Ehemännern oder sogar Söhnen der Opfer begangen. In den ersten zwei Monaten des laufenden Jahres sollen weitere 27 Opfer dazu gekommen sein.
Frauenrechtlerinnen schätzen die Anzahl dieser Morde als wesentlich höher ein. Viele Fälle tauchten in den Statistiken demnach als Selbstmord auf. Wie bei einem Fall in der Stadt Urmia im Nordwesten des Landes: Vor etwa drei Jahren wurde dort eine Frau von Männern ihres Stammes in Brand gesetzt. Nachdem ein Video aufgetaucht war, das das Opfer bei einer Unterhaltung mit einem fremden Mann zeigte, habe das Familienoberhaupt das grausame «Urteil» ausgesprochen, erzählen die Menschen vor Ort. Dieses sei dann sofort umgesetzt worden. Dieser Mord wurde als Selbstmord behandelt, ermittelt wurde nicht.
Kinderehe öffnet die Tür
Tatsächlich sind viele der Opfer solcher Femizide bereits als Kinder von ihren Familienoberhäuptern oder Stammesältesten zu einer frühen Ehe gezwungen worden. Der spätere Wunsch nach einer Scheidung und Selbstbestimmung führt dann zu gewaltsamen Konflikten und nicht selten zu Mord. Auch Wünsche der Frauen nach Bildung oder einem unabhängigen Leben werden oft brutal unterdrückt.
Das gesetzliche Heiratsmindestalter im Iran beträgt 13 Jahre für Mädchen und 15 Jahre für Jungen. Doch auch unterhalb dieser Altersgrenzen kann eine Ehe geschlossen werden, wenn es «im Interesse des Kindes» liegt und die Eltern und ein Gericht zustimmen. Noch bis 2002 lag das gesetzliche Heiratsmindestalter für Mädchen sogar bei nur 9 Jahren.
Seit 2018 wartet ein Gesetzentwurf im iranischen Parlament auf Abstimmung, der eine Erhöhung des Heiratsmindestalters auf 16 Jahre für Mädchen und 18 Jahre für Jungen vorsieht. Im Falle einer Verabschiedung muss das Gesetz allerdings die noch viel höhere Hürde der Ratifizierung im Wächterrat überwinden. Dort überprüfen sechs erzkonservative Rechtsgelehrte die Übereinstimmung neuer Gesetze mit den Vorgaben der Scharia.
Die Familie entscheidet
Die sogenannten «Ehrenmorde» werden normalerweise mit Zustimmung oder gar Unterstützung der Familie geplant und durchgeführt, stellt die iranische Frauenrechtlerin Fatemeh Samadi in einem Interview mit der Tageszeitung Etemad fest. Diese verzichteten dementsprechend auf eine Anzeige. Die Täter kommen deshalb bald wieder frei oder werden milde bestraft. Familienmitglieder, die sich gegen «Ehrenmorde» aussprechen, berichten später, dass sie von ihrer Familie oder Sippe unter Druck gesetzt wurden, auf eine Anzeige zu verzichten oder nicht mit den Medien zu sprechen, so die Frauenrechtlerin Samadi. Die meist milden Strafen erzeugten keinen Abschreckungseffekt.
Wie kommt aber eine Familie überhaupt auf die Idee, eines ihrer weiblichen Mitglieder zu töten? Laut Experten und Expertinnen spielen dabei religiös-fanatische Überzeugungen und archaisch-patriarchalische Strukturen eine entscheidende Rolle. Dieselben Strukturen, die der Familie vorschreiben, ihre weiblichen Mitglieder so früh wie möglich zu verheiraten, diktieren demnach geschiedenen Frauen die Einhaltung der kollektiven «Familienehre». Solche Regeln gelten zwar überwiegend in abgelegenen Kleinstädten und Stammesgesellschaften, werden jedoch durch Migration in die Grossstädte getragen. Auch dort steigt bereits seit Jahren unter anderem die häusliche Gewalt.
Der Staat sieht weg
Femizide gibt es in fast allen Ländern und Kulturen – auch in Deutschland. Die wichtigste Problematik im Zusammenhang mit Familienmorden im Iran stellt die Unfähigkeit des politischen Systems dar. Tatsächlich ist weder das Justizsystem in der Lage, dieses gesellschaftliche Desaster zu verhindern, noch ist die sehr stark staatlich kontrollierte Öffentlichkeit imstande, dem ein Ende zu bereiten. Zum Teil wird seitens der Politik sogar kontraproduktiv gehandelt: Patriarchat und überholte Familienstrukturen und Rollenbilder werden in staatlichen Medien propagiert.
Das iranische Regime setzt währenddessen alles daran, die mediale Aufmerksamkeit für Familienmorde zu stören und zu behindern sowie die frauenfeindlichen Verbrechen als «Einzelfälle» zu verharmlosen. In Zeiten moderner Kommunikationswege sind solche Bemühungen jedoch zum Scheitern verurteilt. Berichterstattungen über Familien- und «Ehrenmorde» haben sich seit Jahren als fester Bestandteil des medialen Bewusstseins etabliert. Viele Soziologen und Soziologinnen führen das auf die Erschütterung traditioneller Sozialstrukturen und den Aufbruch der Modernität in der iranischen Gesellschaft zurück.
In Gebieten mit noch vorhandenen Stammesstrukturen ist die Lage jedoch noch brisanter. Ein Beispiel statuierte der damalige Gouverneur der Südwestprovinz Chuzestan, als er sich für die Anerkennung der frauenfeindlichen Abmachung «Chunbas» als Nationales Kulturerbe eingesetzt hat. «Chunbas» (auf Deutsch «kein Blut mehr») wird in einigen Stammesgebieten in Chusestan zum Beilegen eines blutigen Konflikts angewendet. Dabei wird eine Frau vom dem «Täter-Stamm» mit einem Mann vom «Opfer-Stamm» verheiratet. Der Stamm, der ein Mitglied verloren hat, verzichtet damit auf Rache. Die Entscheidung dazu wird selbstverständlich von den Oberhäuptern der verfeindeten Stämme und natürlich ohne Zustimmung der betroffenen Frau beziehungsweise ihrer Familie getroffen.
Der Versuch, die von Frauenrechtlern vehement angeprangerte Abmachung als Nationales Kulturerbe anzuerkennen, scheiterte allerdings vor fünf Jahren an einer grossen landesweiten Kritikwelle.
Die Justiz schaut zu
«Mehr als neue Gesetze braucht es bei der iranischen Justiz das Bewusstsein, den Femizid als Schwerverbrechen anzusehen.»: Davon sind viele Juristen und Experten überzeugt. Insbesondere, wenn ein Vater seine eigene Tochter umbringt oder ein Mann behauptet, seine Ehefrau aufgrund von «Ehebruch» ermordet zu haben, werden mildere Urteile ausgesprochen.
Im vergangenen Sommer hatte ein Vater in der Provinz Westaserbaidschan im Nordwesten des Iran seine sechzehnjährige Tochter Hayedeh in einem Staudamm ertränkt, weil sie angeblich zu spät nach Hause gekommen war. Auch die dreizehnjährige Romina aus einem Dorf in der nördlichen Provinz Gilan fiel den archaischen Überzeugungen ihres Vaters zum Opfer. Er hatte sie mit einer Sichel enthauptet. Ermittlungen haben ergeben, dass er sich zuvor bezüglich einer milden Strafe vergewissert hatte.
Systematische Verletzungen der Frauenrechte auf der Grundlage ideologischer, historischer, gesellschaftlicher und traditioneller Begebenheiten seien permanent zu beobachten, stellt der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Mohammad Saleh Noghrekar fest. Dabei hätten Familien- und Stammesrituale beziehungsweise -strukturen stets eine signifikante Rolle gespielt, so der Experte. Das iranische Rechtssystem lege zwar zum Teil die Grundlagen eines antidiskriminierenden Verhaltens gegenüber allen Gesellschaftsmitglieder fest, betont er, diese griffen jedoch in der Praxis in Bezug auf Frauen nicht – insbesondere innerhalb der traditionellen Stammes- und Familienstrukturen.
Ein grundlegender Perspektivwechsel der iranischen Machthaber scheint erforderlich zu sein, konstatieren Expertinnen und Experten, damit Frauennamen wie Razieh, Hayedeh oder Romina nicht mehr abscheuliche Erinnerungen an bestialische Verbrechen wachrufen würden.
*Maboobeh Kalami ist ein Pseudonym. Die Autorin lebt in Teheran und arbeitet für verschiedene Medien.
Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Iman Aslani.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal