Zwar hat die Polizei den 28-jährigen Obdachlosen gefasst, der an Thanksgiving mutmasslich Matteo Giovanditto in seiner Eigentumswohnung in Celebration mit einer Axt erschlagen hat. Die Behörden waren auf seine Spur gestossen, als David Murillo versuchte, Münzen zu verkaufen, die dem 58-jährigen Mordopfer gehörten. Doch der Kunstschnee, der zu den Klängen von Bing Crosbys „White Christmas“ jede Stunde auf die Trottoirs des Stadtzentrums rieselt, wirkt in diesen Vor-Feiertagen irgendwie deplatziert: Celebration, von Disney als perfekte Verkörperung des amerikanischen Traums ersonnen, ist neuerdings eine Stadt wie jede andere, mit Arbeitslosigkeit, Verbrechen und Zwangsversteigerungen.
"Wo Kinder Glühwürmchen jagten""
So war das nicht geplant. Celebration, 24 Kilometer südlich von Orlando gelegen, sollte anders, besser, vollkommener sein. „Es war einmal ein Ort, wo an lauen Sommerabenden die Leute ihre Nachbarn grüssten, wo Kinder Glühwürmchen jagten“, stand in einem Prospekt der Firma Disney, als 1996 die ersten 500 Häuser im Ort zum Verkauf standen. Die Immobilien, rund 25 Prozent teurer als anderswo, wurden damals unter 4000 Interessenten verlost.
Heute leben 11 000 Menschen im pittoresken Celebration, und der Alltag dort fühlt sich zunehmend an wie andernorts: Das Paradies ist zum hundskommunen Suburb mutiert, Siedlungswucher einbegriffen. Ausserdem hat Disney vor einigen Jahren die Kontrolle über den Ort aufgegeben, der Besucher noch heute gelegentlich an einen Filmset erinnert.
„Viele jener Pioniere (von 1996) erwarteten, Celebration würde das Ideal der nahen Disney World wiedererschaffen, nicht nur für eine Ferienwoche, sondern während des ganzen Jahres“, schreiben Douglas Frantz und Catherine Collins, die 1997 in die Musterstadt gezogen sind und ein Buch über ihre Erfahrungen in Celebration geschrieben haben: „Sie dachten, ihre Kinder würden in der Musterschule nur beste Noten kriegen und auf ihren Rasen würde nie Unkraut wachsen. Für die überwiegend weisse Bevölkerung aus der Mittelklasse war das Ganze das Abenteuer ihres Lebens, die Chance, neu anzufangen in einer Stadt, deren Strassen mit grossen Erwartungen gepflastert waren.“
Gefallene Immobilienpreise
Doch die perfekte Fassade von Celebration hat bereits einige Jahre vor dem jüngsten Mord Risse bekommen. Es gab Scheidungen, Fälle von häuslicher Gewalt, Diebstähle und 2002 den ersten bewaffneten Raubüberfall, als maskierte Diebe ein Ehepaar in seinem Haus fesselten und mit Lumpen zum Schweigen brachten. Auf einem Denkmal für Kriegsveteranen tauchten im vergangenen Sommer schwarze Graffiti auf.
Auch Amerikas Wirtschaftskrise ging an Celebration nicht spurlos vorbei: Die Haupreise sind um mehr als die Hälfte gefallen und bis heute hat es im Ort 492 Zwangsversteigerungen gegeben. Inzwischen stehen erste Immobilien leer und gedeiht Unkraut auf ungepflegten Rasen. Und an Thanksgiving, dem Tag des Mordes an Matteo Giovanditto, schloss das lokale Kino, das vor allem Disney-Filme gezeigt hatte. Mickey Mouse hatte gegen die Rezession keine Chance.
Inzwischen ist, im Zeitalter des Internets und sozialer Medien, auch Disney nicht mehr ganz, was es einmal war – ansehnlicher Gewinne zum Trotz. Noch 1998 hatte Carl Hiaasen, Krimi-Autor und Kolumnist des „Miami Herald“, in einer Broschüre davor gewarnt, die Firma versuche, Amerika ihre Werte aufzudrängen statt die Werte der Nation zu spiegeln. Disney wolle, schrieb Hiaasen, die ganze Kultur, nicht nur Florida und New Yorks 42. Strasse (wo ein grosser Disney-Laden steht), „in eine streng kontrollierte, geschlechtslose Unterhaltungszone verwandeln, die Kunden in einem Disney Store abliefert“. Die Firma wolle praktisch jedes menschliche Wesen in Amerika erreichen, um Profit zu machen.
Gottes Schöpfung verbessern
So stark, diagnostizierte Carl Hiassen, sei der Grössenwahn der Walt Disney Company, dass selbst die Natur weder vorhersehbar noch schön genug sei, um den Ansprüchen ihrer Freizeitparks gerecht zu werden, und die Firma es für nötig halte, „Gottes Schöpfung ständig nachzubessern“. Wenn es jemanden gebe, so der Autor, der unwiderstehlicher sei als Jesus, „dann ist es Mickey“.
Doch in Celebration ist Mickeys Magie an Grenzen gestossen. Noch während die Polizei fieberhaft Giovandittos Mörder suchte, verbarrikadierte sich im Ort ein 52-jähriger Bewohner während 14 Stunden in seinem Haus und begann, auf die Gesetzeshüter zu schiessen. Bevor die Polizisten das Haus stürmten, richtete sich der Schütze selbst. Über dem Städtchen knatterten Polizeihelikopter, und ein Festtagscocktail auf dem Golfplatz musste abgesagt werden.
„Das Ausmass aktueller Berichterstattung über die jüngste Gewalt in Celebration sagt mehr aus über die Faszination der Gesellschaft mit dem unerreichbaren Ideal einer Utopie als über die Stadt selbst“, haben Douglas Frantz und Catherine Collins nach dem Mord in Celebration in einem Meinungsbeitrag für die „New York Times“ geschrieben: „Die Bewohner dort wissen schon seit Längerem, dass ihr Wohnort keine Bahn im Magic Kingdom ist. Sie wissen, dass nicht jedermann ewig lebt, nicht einmal in der Stadt, die Disney gebaut hat.“