Noch fehlen Mitt Romney 300 von 1144 Delegiertenstimmen, die er braucht, um im August am Parteitag in Tampa (Florida) zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekürt zu werden. Die nötigen Stimmen zu gewinnen, dürfte reine Formsache sein angesichts des Umstands, dass sich sein schärfster Konkurrent, Ex-Senator Rick Santorum, am 10. April aus dem Vorwahlkampf verabschiedet hat und Newt Gingrich laut eigenem Bekunden demnächst das Handtuch werfen wird. Übrig bliebe dann nur noch der unverwüstliche Ron Paul. Der 77-Jährige hofft, am 29. Mai die Entscheidung in seinem Heimatstaat Texas und damit 155 Delegiertenstimmen zu gewinnen, was ihm in Tampa unübersehbare Präsenz bescheren würde.
Doch in Ron Paul sieht Mitt Romney wohl eher einen lästigen Wadenbeisser als einen ernsthaften Mitbewerber. Er gibt sich lieber prä-präsidial und übt sich in jener abgehobenen Rhetorik, die bei den Wählern, allen bitteren Erfahrungen zum Trotz, nach wie vor gut ankommt. „Amerikaner sind immer unverbesserliche Optimisten gewesen“, sagte Romney diese Woche in Manchester (New Hampshire): „Doch im Laufe der vergangenen dreieinhalb Jahre haben wir gesehen, wie Hoffnungen und Träume durch falsche Versprechen und schwache Führung zunichte gemacht worden sind. Wo immer ich hingehe, Amerikaner sind es leid, müde zu sein.“
Romneys Vorzeige-Familie
Er beschwor Ronald Reagan, der 1980 im Wahlkampf gegen Jimmy Carter die Amerikaner rhetorisch gefragt hatte, ob es ihnen besser gehe als vier Jahre zuvor, und wollte von seinen Anhängern in Manchester wissen, ob es für sie leichter geworden sei, mit ihrem Lohn auszukommen oder einfacher, ein Haus zu verkaufen oder ein neues Heim zu erwerben: „Falls die Antwort auf diese Fragen positiv ausfällt, würde Präsident Obama sich zu Recht auf seinen Leistungen berufen und um die Wiederwahl bewerben. Weil das aber nicht der Fall ist, wird er einen Wahlkampf der Umwege, der Ablenkungen und Verzerrungen führen.“
Mit seiner Rhetorik schlug Mitt Romney genau jenen Ton an, den politische Beobachter von ihm erwartet haben: Will sich der republikanische Herausforderer, dem Konservative und Evangelikale in den eigenen Reihen noch immer skeptisch gegenüberstehen, am 6. November Chancen ausrechnen, muss es ihm gelingen, republikanische Wähler über ihre Abneigung gegenüber Barack Obama an die Urnen zu bewegen. Angesichts der nach wie vor siechenden US-Binnenwirtschaft und der hohen Arbeitslosigkeit wird Romney alles versuchen, sich als erfahrenen Manager zu präsentieren. Und dabei seine Vorzeige-Familie, Frau Ann und die fünf Söhne, als Wahlhelfer einsetzen – ohne Erbarmen und ohne Scham, wie amerikanische Politiker das zu tun pflegen.
Historisch gewachsene Einsichten
Dabei sind sich Mitt Romney und Barack Obama vom Temperament her „erstaunlich ähnlich“. Das sagt zumindest David Brooks, ein konservativer Kolumnist der New York Times. „Beide sind eher zurückhaltende, coole Persönlichkeiten“, argumentiert Brooks in einem Blog: „Beide gehen Sachverhalte rational an. Beide sind pragmatische Problemlöser. Der eine kommt aus der Geschäftswelt, der andere aus der Welt der Universitäten und der Regierung, aber in einem anderen Jahrzehnt wären sie nicht so weit voneinander entfernt.“ Womit Brooks die Polarisierung anspricht, die Amerikas Politik heute lähmt und den wachsenden Überdruss bewirkt, den die Wähler gegenüber Politikern empfinden.
Auf die Frage, weshalb so viele Amerikaner Präsident Obama als unpatriotisch oder gar als Landesverräter titulieren würden, antwortet David Brooks wie folgt: „Viele Republikaner glauben, dass Amerikas Erfolg auf ein paar wenigen historisch gewachsenen Eigenheiten beruht – die politische Gewalt ist bis auf den Einzelnen hinunter dezentralisiert, der Souverän ist stärker als das Diktat einer Elite; Verfassungsklauseln schränken die Gewalt der Zentralregierung ein; geschäftlicher Erfolg ist Anlass für Bewunderung; wer sich anstrengt, wird dafür belohnt.“ Dieses Fundament, folgert der Kolumnist, hätten die Republikaner jüngst abbröckeln sehen. Und sie machten Barack Obama dafür verantwortlich. Obwohl der 44. Präsident 2009 von George W. Bush ein politisches Erbe übernahm, das er als Privatmann ausgeschlagen hätte.
Der tiefe Sturz John Edwards
Keine gute Werbung für die demokratische Partei ist auch der Prozess, der diese Woche in Greensboro (North Carolina) gegen den früheren Vizepräsidentschaftskandidaten John Edwards begonnen hat. Dem Ex-Senator, der 2004 an der Seite John Kerrys die Wahlen verlor, wird vorgeworfen, vier Jahre später illegale Wahlspenden in der Höhe von mehr als 900 000 Dollar entgegen genommen und für private Zwecke missbraucht zu haben. Dafür, um eine Mätresse, die ihm ein Kind geboren hatte, vor seiner todkranken Frau Elizabeth sowie den Medien zu verstecken und so seine politischen Ambitionen am Leben zu erhalten (Edwards wollte in der Regierung Obama Justizminister werden).
Noch selten ist in der amerikanischen Politik einer so hoch aufgestiegen und so tief gefallen wie John Edwards, dem Demokraten seinerzeit das politische Talent eines Bill Clinton bescheinigten und dem sie grössere Chancen auf einen Einzug ins Weisse Haus einräumten als Barack Obama. Im Falle einer Verurteilung droht dem stets adrett frisierten Politiker eine Gefängnisstrafe von bis zu 30 Jahren. Eine Geldgeberin Edwards’ war im Übrigen eine 101-jährige Verehrerin namens Bunny Mellon, deren milde Gabe, als Ausgaben für Antiquitäten deklariert, Komiker flugs als „Bunny money“ charakterisierten.
Macht und Machtlosigkeit des Vize
Mitt Romney indes hat die Wahl eines Stellvertreters noch vor sich. Obwohl John Nance Garner, der von 1933 bis 1941 Vizepräsident unter Franklin D. Roosevelt war, über sein Amt lästerte, es sei nicht „nicht mehr wert als ein Kübel warmer Pisse“, schreiben Experten der Vizepräsidentschaft inzwischen grössere Bedeutung zu. Dies nicht zuletzt auch aufgrund der Amtszeit von Dick Cheney, dem es in acht Jahren unter George W. Bush gelang, eine starke Machtbasis aufzubauen und grossen Einfluss zu gewinnen.
Ein amerikanischer Vize, heisst es, sei nur „einen Herzschlag von der Präsidentschaft entfernt“ (im Falle eines tödlichen Herzinfarkts des Präsidenten). Über George W. Bush wurde angesichts der Machtfülle des herzkranken Cheney in Washington gewitzelt, er sei vom höchsten Amt im Staate nur „a heartbeat away“. Immerhin hat seit 1900 jeder vierte Vizepräsidentschaftskandidat später selbst als Präsident kandidiert und jeder sechste Vize ist tatsächlich ins Weisse Haus eingezogen, entweder weil er Wahlen gewann oder auf einen Präsidenten folgte, der im Amt gestorben oder zurückgetreten war.
Pragmaiker und Hardliner
Auf jeden Fall liefert das Amt den Medien in den USA eine Menge Stoff für Mutmassungen, wer denn „Veep“, kurz für „Vizepräsident“, werden könnte. „Der Vizepräsident ist nicht aus wahltaktischen Gründen wichtig“, steht in einem Meinungsbeitrag der Washington Post. Selbst die schlechtesten Kandidaten hätten das Stimmverhalten der Wähler kaum beeinflusst: „Stattdessen entscheidet sich der Präsidentschaftskandidat sowohl für ein äusserst wichtiges Mitglied seines Beraterteams wie für seinen möglichen Nachfolger bei der Nominierung durch die Partei.“ Wichtig ist ausserdem die Funktion des Vizepräsidenten als Liaison zwischen Weissem Haus und Kongress.
Trotzdem wird häufig spekuliert, welchen Vorteil ein Vize dem Möchtegern-Präsidenten bringen kann. Soll er (oder sie) dem Chef aufgrund seiner Herkunft helfen, einen wichtigen Wackelstaat zu gewinnen? Soll der Vize ein bestimmtes Wählersegment wie zum Beispiel Evangelikale, Frauen oder Latinos ansprechen, das der Präsidentschaftskandidat sonst nicht erreicht? Soll er innerparteiliche Gräben überbrücken, zum Beispiel die Kluft zwischen Pragmatikern und Hardlinern? Soll der „Veep“ ein Manko in der Persönlichkeit des künftigen Präsidenten ausgleichen, etwa dessen fehlende Austrahlung oder dessen mangelnde Erfahrung in der Aussenpolitik?
Verleugnete Ambition
Senatoren haben erfahrungsgemäss am meisten Chancen, als Vizepräsidentschaftskandidaten in Betracht gezogen zu werden. Drei der vier letzten Vizes – Joe Biden (unter Barack Obama), Al Gore (unter Bill Clinton) und Dan Quayle (unter George Bush Sr.) - sind aus der kleinen Kammer gekommen. Dick Cheney kam aus der Privatwirtschaft, hatte aber früher lange Zeit in Washington DC gewirkt. Im Falle Mitt Romneys wird denn in der Tat zwei Senatoren relativ viel Aufmerksamkeit zuteil: dem ursprünglich aus der Schweiz stammenden Rob Portmann aus Ohio sowie Marco Rubio, dem 41-jährigen Sohn kubanischer Einwanderer aus Florida, der als einer der grossen Hoffnungsträger der republikanischen Partei gilt.
Zu den Favoriten der „Veepstakes“ werden ferner der Abgeordnete Paul Ryan (Wisconsin) sowie die Gouverneure Chris Christie (New Jersey), Bobby Jindal (Louisiana), Susanna Martinez (New Mexico) und Bob McDonnell (Virginia) gezählt. Wobei es für einen möglichen Vize fast zum Ritual gehört, sich erst zu zieren und jegliche Ambitionen auf das zweithöchste Amt im Staate von sich zu weisen. Trotzdem haben sich bisher im Wahlkampf fast alle genannten Kandidaten stolz an der Seite Mitt Romneys gezeigt.
Die Politsatire "Veep"
Der Zufall will es, dass der renommierte US-Kabelsender HBO neuerdings die Politsatire „Veep“ des britischen Regisseurs Armando Iannucci austrahlt. Die Hauptrolle als Vizepräsidentin Selina Meyer spielt die aus der Serie „Seinfeld“ bekannte Julia Louis-Dreyfus. „Vizepräsident zu sein heisst, „gleichzeitig so nahe und doch so fern (der Macht) zu sein“, sagt Iannucci, der in „The Thick of It“ bereits den britischen Politbetrieb brillant parodiert hat.
„The buck stops somewhere near here“, heisst ein Werbeslogan für die mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Fernsehserie. Der Spruch spielt auf ein Schild an, das Präsident Harry Truman (1884-1972) einst auf seinem Pult im Oval Office des Weissen Hauses platziert hatte: „The Buck Stops here“ – ich bin am Ende verantwortlich. Kaum ein Kritiker von „Veep“ vergisst zu erwähnen, dass die Akteure der Serie viel und unflätig zu fluchen pflegen. Es ist wohl der Fluch der Politik.