Das Plakat mit der Bezeichnung balairatt.ch, d.h. Tanz der Ratten, ist unmissverständlich: Die Ratten, die dem Käse zu Leibe rücken, sind Schmarotzer und Schädlinge. Wer hat die Plakate aufkleben lassen, die vor allem die 46'000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger beleidigen?
Fast eine Woche lang rätselte man. Eine Spur führte zum kantonalen SVP-Präsidenten Pierre Rusconi, doch dieser erklärte den Medien wiederholt, er habe damit nichts zu tun. Auch in Italien hat das Plakat Kritik ausgelöst. Mehrere Tessiner Politiker und Parteien sowie die Tessiner Regierung distanzierten sich von diesem "Käse". Ständerat Filippo Lombardi sprach von einer Idiotie zum Schaden der Schweiz.
Der Humor des SVP-Präsidenten
Als die Stimmung richtig angeheizt war, gab der SVP-Präsident schliesslich zu, dass es sich um eine Aktion seiner Partei handle. Er gestand, die Reaktionen amüsierten ihn. Dass er die Öffentlichkeit wiederholt angelogen hatte, schien ihm nicht der Rede wert. Er kehrte den Spiess um und warf den Kritikern vor, sie hätten keinen Sinn für Humor.
Humor? Der Text zum Rattenplakat sagt ganz klar, dass alle arbeitslosen Tessiner Arbeit fänden, wenn nicht unterbezahlte Arbeiter, Krankenschwestern und Forscher aus Italien beschäftigt würden. Die Aktion der sich als Wirtschaftspartei ausgebenden SVP kommt bei der Wirtschaft jedoch schlecht an: Handelskammerdirektor Luca Albertoni entgegnete, die Grenzgänger seien für die Wirtschaft kein Problem, sondern stellten einen Reichtum dar.
Tanz der Ratten
Viele Tessiner empörten sich über die grenzgängerfeindliche Kampagne, und mehrere „Ratten“ schrieben ebenfalls Leserbriefe. Einige schilderten ihren langen Arbeitstag, der oft bereits vor fünf Uhr beginnt; sie haben nicht das Gefühl, Schmarotzer zu sein. Paradox ist: manche Grenzgänger werden in Italien die Lega Nord wählen, also jene Partei, die in Italien gegenüber Ausländern gleich auftritt wie im Tessin SVP und Lega.
Es fällt auf, dass die grösste Tageszeitung, der „Corriere del Ticino“, den Verteidigern der beleidigenden Plakataktion erstaunlich viel Raum schenkt; sie will offenbar neutral bleiben und untersuchte, ob mit dem „Tanz der Ratten“ Lügen oder Wahrheiten verbreitet werden. Die Schlussfolgerung der Analyse überlässt der „Corriere“ den Lesern, doch wird klar, dass die Plakate ein schiefes Bild zeichnen. Wer jedoch der Meinung ist, Arbeitgeber würden lieber unterbezahlte Grenzgänger beschäftigen als einheimische Arbeiter, würde besser gegen jene Unternehmer vorgehen. Doch mit der Wirtschaft will es die SVP nicht verderben. Es ist einfacher, gegen Grenzgänger zu lästern. Das bringt bei den Tessiner Wahlen im Frühling auch noch Stimmen.
Die menschenfeindlichen und vulgären Töne rechtfertigt SVP-Präsident Rusconi wie folgt: "Man muss hart zuschlagen, um gehört zu werden." - Lauten, unanständigen Tiraden ist man im Tessin seit 20 Jahren ausgesetzt. Giuliano Bignasca, seine Lega dei ticinesi und seine Gratiszeitung „Il Mattino della domenica“, die unerträgliche Hetzkampagnen führen, sind oft Verbündete der im Tessin kleinen SVP, aber gleichzeitig die mächtige Konkurrenz. Mit harten Worte und skandalösen Bildern versuchen sie sich deshalb zu überbieten.
Das hässliche und das saubere Gesicht der Lega
Im Tessin dürfen sich jene, die den Hass gegen die Fremden schüren, vieles erlauben. Als die Wegweisungen von Roma aus Frankreich in aller Munde war, schrieb Bignasca auf der ersten Seite des „Mattino“ in grossen Lettern „Roma raus! Oder Arbeitslager“. Wieder einmal hat der mehrfach vorbestrafte Lega-Präsident und Mitglied der Exekutive von Lugano mit dieser widerwärtigen Schlagzeile Empörung ausgelöst.
Vor allem die dem sozialen Flügel des Tessiner Freisinns nahestehende Tageszeitung „la Regione“ aus Bellinzona verurteilt konsequent den wiederkehrenden rassistischen Ton des „Mattino“. Neben dem Unflat Bignasca gibt es das Sonntagsgesicht der Lega, jenes von Regierungsrat Marco Borradori, der allen zuhört und fast alle Einladungen annimmt; er ist das bestgewählten Regierungsmitglied. Borradori wurde von „laRegione“ um eine Stellungnahme gebeten, und er hat sich klar vom „falschen Ton“ des „Mattino“ distanziert. Nicht zum ersten Mal, denn es gab schon viele Anlässe:
Beispielsweise als Bignasca auf vulgärste Weise die damalige Nationalratspräsidentin Chiara Simoneschi-Cortesi verspottete, oder als er eine verletzende Karikatur der damaligen Bundespräsidentin Ruth Dreifus veröffentliche. Borradori distanziert sich von den „Ausrutschern“ seines Präsidenten, das kostet ihn nichts und hat keine Folgen, denn an einen Bruch mag Borradori nicht denken.
Nach Bignascas Anti-Roma-Schlagzeilge wies Borradori darauf hin, dass es zu illegalen Aktionen gegen den Lega-Präsidenten gekommen sei; eine Türe am Sitz der Lega wurde verschmiert und in einer Seegemeinde wurde ein makabres Grab von Bignasca hergerichtet. Die seit fast 20 Jahren dauernde verbale Gewalt Bignascas hat Vandalenakte ausgelöst, was bedauerlich, aber nicht völlig überraschend ist.
Viel Nachsicht gegen verbale Gewalt
Es ist erstaunlich, wie die dauernde vulgäre Berieselung durch den „Mattino“ hingenommen wird und nur ausnahmsweise Empörung auslöst. Borradoris Erklärung dafür, ist auch jene vieler Politiker: „Man weiss es ja, Bignasca ist Bignasca.“ Viele Tessiner sind bereit, ihm fast alles nachzusehen, denn er ist auch gerissen und erfindet deftige Wortspiele. Seine dauernden Angriffe gegen Asylbewerber, Ausländer, gegen Italien und Bundesbern lenken von den eigenen Problemen ab. Das ist vielen willkommen.
Zudem erfreuen sich starke Worte und Schwarzweissmalerei wachsender Beliebtheit bei Politikern anderer Parteien: Bignasca zerstört mit seiner Lega die politische Kultur des Tessins. Als nach der „Roma-raus“-Schlagzeile SP-Präsident Manuele Bertoli die Parteien auf Anstandsregeln für die politische Debatte verpflichten wollte, konnten sich die Parteien, vorerst ohne die Lega, im Grundsatz einigen. Als Rusconi mit Bezug auf die SVP-Plakataktion an seine Verpflichtung erinnert wurde, erwiderte er, die Vereinbarung betreffe bloss politische Diskussionen. Und solche Politiker wollen das Tessin und die Schweiz retten.