Jeden Tag fährt die Alvier mehrmals von Murg über den Walensee nach Quinten und zurück. Man sieht ihr das Alter von 113 Jahren nicht an, ja sie ist sogar manchmal so flink, dass man am Landungssteg nur noch ihr Heck erblickt.
Vorerst zeigt uns die MS Alvier die kalte Schulter – oder genauer das Heck. Als wir keuchend auf dem kleinen Strässchen um die Ecke biegen, hat sich das Schiff bereits gute fünfzig Meter vom Landungssteg Murg Ost entfernt und strebt eifrig dem Südufer des Walensees zu. Soweit wir sehen können, ist der Schiffsführer allein an Bord.
Die S4 von Ziegelbrücke hatte drei Minuten Verspätung. Wäre sie pünktlich gewesen, hätten uns sechs Minuten für den Weg zur Verfügung gestanden. Jetzt sind es noch drei. Wir schaffen die Strecke in vier Minuten, eine Minute zu viel. Und natürlich regnet es in Strömen. Unter dem Vordach des nahen Zeltplatzkiosks finden wir ein wenig Schutz vor der Nässe, trinken einen warmen Tee und warten. Die Alvier fährt im Stundentakt.
Wieso ärgere ich mich überhaupt? – Am jenseitigen Ufer, in Quinten im «Tremondi Boutique BNB», wie sich die Gaststätte stolz nennt, werden ein geräumiges Zimmer und das exquisite Essen auch eine Stunde länger auf uns warten. – Vielleicht ist es wegen dem Leserbrief, den ich zuhause ausgedruckt habe und jetzt in meiner Hosentasche spüre, geschrieben am 18. Juli 2021 von Sibylla Jaeger nach ihrer Lektüre meines Berichtes über eine Wanderung um den südlichen Teil des Greifensees, in dem ich die Fahrt mit dem Motorschiff «Heimat» von Maur nach Niederuster geschildert hatte.
Der Cousin der «Heimat» – oder eher die Cousine – würde sie interessieren, schrieb mir damals Frau Jaeger, nämlich die «Alvier», welche Quintens Kinder zur Schule nach Murg bringt. Der Walensee sei sowieso ein schöner See, ob ich nicht einmal darüber etwas schreiben könnte.
Frau Jaeger musste fast ein Jahr warten – und ich eine Stunde! Dennoch: Ich komme mir wie ein von seiner Mutter verlassenes Kind vor, als ich die «Alvier» im Regen verschwinden sehe, oder wie ein enttäuschter Liebhaber, der seit Monaten darauf gewartet hat, seine Angebetete endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen ...
Zum Glück ist eine Stunde, so lange sie im Regen auch zu dauern scheint, schliesslich doch zu kurz, um eine Liebe ganz zu begraben. Ich nehme mir vor, der «Alvier» und ihrem Schiffsführer eine zweite Chance zu geben. Und das ist gut so. Dem Kapitän ist die Sache peinlich; er habe die Verspätung des Zuges nicht bemerkt und tut alles, um unsere Enttäuschung zu lindern. Da hat er mit meiner Frau und mir, der eingespielten Schiffsmannschaft von früher, ohnehin ein leichtes Spiel. Fängt man erst einmal über Schiffe und die Abenteuer auf dem Wasser zu reden an, sind solche Lappalien ohnehin rasch vergessen. Wir scheiden versöhnt.
Später, im grossen Zimmer des Tremondi, über dessen Bett das Bild eines überlebensgrossen Felchen hängt, träume ich, wie sich die Alvier nachts heimlich von ihrem Steg in Murg losmacht und auf den See hinaus fährt. Das Wasser funkelt im Lichte des Vollmondes, als ob Millionen von Kerzen auf den Wellen tanzten. Hinter Walenstadt ragen drei Berggipfel in den hellen Nachthimmel. Wie der Komtur auf dem Friedhof in Mozarts Don Giovanni ruft der Mittlere der drei mit tiefer Stimme ins Tal hinunter: «Ich bin der Alvier, der Chef der gleichnamigen Gipfelgruppe, 2343 Meter hoch und Millionen von Jahren alt. Wer bist du und was treibst du dich, mickriger Wasserfloh, des Nachts alleine auf dem stillen See herum?»
«Ich bin kein mickriger Wasserfloh», ruft das kleine Schiff zurück und lässt dreimal das Schiffshorn über das Wasser tönen, «ich bin dein stolzer Namensvetter. Du magst zwar älter und grösser sein als ich, aber dafür habe ich weit mehr von der Welt gesehen als du, der du festgenagelt bist zwischen dem Rheintal, dem Toggenburg und dem Walensee. Und überdies bin ich auch schon über hundert Jahre alt, auch wenn Altsein noch nie ein Verdienst war und auch nicht unbedingt ein Zeichen besonderer Weisheit.»
Hätte es ihm die Natur erlaubt, der mächtige Alvier hätte wohl gerne sein steinernes Haupt geschüttelt ob so viel Respektlosigkeit. Doch dann obsiegt seine Neugierde. «Sag mir, kleiner Wicht, was willst denn du schon mehr als ich gesehen haben auf deiner zwischen Felswänden eingeklemmten Pfütze? Mein Blick geht bis über den Bodensee, ins Voralbergische und ins Bündnerland. Mindestens fünf Kantone überblicke ich, und überdies ausser der Schweiz noch drei weitere europäische Staaten.»
Auf dieses Stichwort hat die kleine Alvier nur gewartet. «Warst du schon einmal in Deutschlands Hauptstadt, du Felsbrocken? Dort kam ich nämlich zur Welt, bei der Spreewerft Wilhelm Strack in Berlin-Stralau, halbwegs zwischen der Museumsinsel und Köpenick gelegen, wahrscheinlich anno 1909, auch wenn mein Geburtsjahr, wie oft bei älteren Wesen, nicht so genau bekannt ist. Mein Auftraggeber, die Firma Otto Kagel in Berlin-Wannsee, taufte mich auf den himmlischen Namen Dornröschen. Auf der Havel und den Berliner Seen habe ich meine Jugend verbracht.»
«Also doch ein fremder Fötzel», ruft Alvier der Berg, «ein Flüchtling oder gar ein Profiteur, der wohl auf dem Walensee den Einheimischen eine Stelle weggenommen hatte.» – «Schön wär’s gewesen», antwortet Alvier das Schiff. «Tatsächlich beendete der Kriegsausbruch 1914 mein Leben unter den Schönen und Reichen. Ich rostete vor mich hin und wurde schliesslich 1921 in die Schweiz verkauft. Doch hier ging es mir zunächst wie vielen Flüchtlingen: Die Schweizer Bürokraten verweigerten dem damaligen Verwaltungsrat der Dampfschiff Gesellschaft Zug (DGZ) die Betriebsbewilligung. Schwerzmann hatte mich auf eigene Kosten als Alternative zum unrentablen Schraubendampfer Rigi, der damals auf dem Zugersee verkehrte, gekauft. Kurz entschlossen verliess er den Verwaltungsrat der DGZ und baute mit mir einen Konkurrenzbetrieb zur DGZ auf. Doch er scheiterte. Zum Glück tauchte 1923 als mein Retter jene visionäre Gestalt auf, welche Jahre später den Detailhandel der Schweiz revolutionieren sollte: Gottlieb Duttweiler. Er küsste mich, das Dornröschen wach, taufte mich Seebueb – Geschlechtsumwandlungen waren schon damals en vogue – und benützte mich fortan auf dem Zürichsee für private Fahrten.»
«Dornröschen, Seebueb und jetzt Alvier – das tönt nicht gerade nach einem seriösen Lebenswandel», spottet Alvier der Berg aus luftiger Höhe ins Dunkel des Walensees hinunter. «Du hast noch einen Namen vergessen», gibt Alvier das Schiff spitz zurück. «Als ich schliesslich im Jahr 1954 als zukünftiger Hoffnungsträger auf den Walensee kam, wurde ich Quinten getauft. Während vielen Jahren war ich dann ganz alleine für den Verkehr zwischen Weesen und Walenstadt zuständig, bis mich anno 1987 ein neues und jüngeres Zweideckschiff verdrängte und mir überdies meinen Namen (Quinten) stahl. Das war fast schon ein Todesurteil, aber wir Berlinerinnen sind zäh und langlebig. Ich wehrte mich erfolgreich und erhielt schliesslich ein gründliches Facelifting. Seit 1991 bin ich die Hauptstütze der ganzjährigen Querverbindung zwischen Murg und Quinten und lege so pro Jahr bei weitem die meisten Kilometer zurück.»
«Gut hast du dich für deine Sache gewehrt», brummelt Alvier der Berg, der nun doch ein bisschen stolz wird auf seine Namensbase. «Und eigentlich sollten wir uns nicht streiten, sondern zusammenhalten, teilen wir doch ein gemeinsames Schicksal: Im Sommer bei schönem Wetter trampeln Hunderte von Menschen auf uns herum wie Fliegen auf einem Käsebrot ...» – «... oder auf einem Kuhfladen», ergänzt Alvier das Schiff. «Wenn wir uns doch wenigstens schütteln könnten, wenn es uns zu viel wird …»
Plötzlich schallt der Einuhr-Schlag einer Kirchenglocke übers Wasser. Vorbei ist die Geisterstunde, wenn Berge, Schiffe und Häuser reden können. Jetzt dösen sie im Mondlicht wieder schweigend vor sich hin und warten auf den ersten Ruf der Amsel.
Am nächsten Morgen bringt uns die Quinten II, die einst der Alvier beinahe den Todesstoss versetzt hätte, nach Weesen. Am Hafen steht zu Ehren von Hans Conrad Escher von der Linth eine Säule, auf welcher die Wasserstände des Walensees vor der Linth-Korrektion (vollendet 1816) angegeben sind. Anhand der goldenen Markierungen realisiert man, wieso Escher von der Linth bis heute als Retter verehrt wird: Bevor die Linth umgeleitet und so der Rückstau in der Maag, dem einstigen Abfluss des Walensees, behoben worden waren, standen die Häuser des Städtchens Weesen oft während Monaten im Wasser.
Ein ähnliches Denkmal steht übrigens in Walenstadt; auch dort war die Wassernot vor dem Bau des Linthkanals gross. Aber das ist eine andere Geschichte ...