Eine Frage, die Enrique Mazzola durchaus mit Ja beantwortet. Irgendwie sieht man es seinem Gesicht trotz Maske an: Endlich wieder auf der Bühne! Er muss das nicht mal wörtlich sagen. Wie sehr Corona gerade auch den Kulturbereich getroffen hat, wissen wir.
Enrique Mazzola strahlt hinter der Maske. Zwei Treppen hoch, den Gang entlang, dann rechts, und schon sind wir im Dirigentenzimmer des Opernhauses. Die rote Brille trägt er immer noch wie in den Jahren zuvor. Sein Markenzeichen. Ein bisschen Normalität aus der Zeit vor Corona.
Im April 2018 war es, als Enrique Mazzola in Zürich Gaetano Donizettis «Maria Stuarda» dirigierte. Damals ging es um den Machtkampf zwischen der englischen Königin Elisabeth I. und ihrer Rivalin Maria Stuart aus Schottland, der mit der Hinrichtung Maria Stuarts endet. Ein hochdramatischer Stoff mit ebenso dramatischer Musik.
Verkehrte Chronologie
Inzwischen ist es Dezember 2021 und Enrique Mazzola bereitet sich – und das Orchester – auf «Anna Bolena» vor, ebenfalls von Donizetti, ebenfalls ein Teil der sogenannten Tudor-Trilogie, deren Stücke sich um Heinrich den Achten und seinen Frauenverschleiss drehen. In Zürich ist es mit dem Amerikaner David Alden auch wieder der gleiche Regisseur wie bei «Maria Stuarda», der gleiche Bühnenbildner und vor allem die gleiche Hauptdarstellerin, die wunderbare Diana Damrau. Also der zweite Teil, eine direkte Fortsetzung vom ersten? Enrique Mazzola lacht und sagt: «Im Gegenteil! Genaugenommen ist ‘Anna Bolena’ der erste Teil der Geschichte. ‘Maria Stuarda’ wäre der zweite!» Denn Anna Bolena war die Mutter von Elisabeth I., der Gegenspielerin von Maria Stuart. In Zürich nimmt man’s nicht so genau mit der Chronologie, da die Familienverhältnisse bei den Tudors ohnehin kompliziert sind.
Enrique Mazzola gefällt es, wieder mit dem gleichen Team zu arbeiten. «Wir sind jetzt richtige Komplizen geworden und kennen uns gut. Das macht die Arbeit leichter, denn wir wissen schon, wie wir zusammen funktionieren. Mit David Alden, unserem Regisseur, war jede Bühnenprobe gleichzeitig eine Musikprobe. Also jede Bewegung auf der Bühne wurde mit einer Emotion der Musik verbunden. Das ist sehr speziell und ziemlich einzigartig, so zu proben». Mazzola hat sich für die Reinheit des Belcanto eingesetzt, Alden hat dagegen Modernität und Tempo eingebracht. «Ich weiss inzwischen, dass Alden modern und stylish inszeniert, und ich weiss jetzt beim zweiten Mal schon von Anfang an, wie ich das mit der Musik in Einklang bringen kann», erklärt Mazzola.
Konkurrenz unter den Komponisten
«Maria Stuarda» war eine sehr schöne, ästhetische Aufführung. Und «Anna Bolena»? «Wir hoffen, dass sie noch schöner wird», sagt er mit Nachdruck und strahlt. «Meiner Meinung nach ist ‘Anna Bolena’ die grössere Herausforderung. Schon weil die Oper länger ist. Es ist ein früherer, jüngerer Donizetti. Als er ‘Anna Bolena’ schrieb, war er noch kein berühmter Komponist. Er war einer von vielen, die so erfolgreich sein wollten wie Rossini oder Bellini, der damals, 1830, schon ein Star war.
Mit ‘Anna Bolena’ schrieb Donizetti eine sehr ausdrucksvolle Oper, in der Rezitative beim Erzählen der Geschichte eine wesentliche Rolle spielen. Für die Dramatik der Oper sind sie sehr wichtig, weil das Publikum dank dieser Rezitative versteht, was da auf der Bühne abläuft.» Nach «Anna Bolena», so Mazzola, habe Donizetti seinen Stil komprimiert. «Maria Stuarda» und «Roberto Devereux», also die beiden späteren Tudor-Opern, seien bedeutend weniger lang und insgesamt kompakter. Und das mit den Rezitativen habe Donizetti wohl ein bisschen bei Bellini abgeguckt. «Bellini war Donizettis Haupt-Konkurrent und schrieb häufig sehr lange Rezitative und dazu schmelzende Melodien. Ich denke, Donizetti fühlte sich verpflichtet, auch Rezitative zu schreiben, um zu zeigen, wie gut er ist», so Mazzola.
Könnte man also sagen, die späteren, kürzeren Donizetti-Opern sind die besseren? Enrique Mazzola denkt nach. «Hmmm … das würde ich so nicht sagen, aber als Dirigent gefällt mir, wie kompakt Donizetti zehn, zwölf Jahre später komponierte. Deshalb betone ich, dass wir es hier bei ‘Anna Bolena’ noch mit einem jungen Donizetti zu tun haben, der sich musikalisch noch entwickeln muss, also etwas länger braucht, um alles auszudrücken. Das ist interessant zu sehen, und zu hören … Als Dirigent und als Liebhaber des Belcanto berührt mich das sehr.»
Streamings und YouTube
Seit bald zwei Jahren beeinflusst nun Corona unser Leben und unsere Arbeit. Auch Enrique Mazzolas Terminkalender war plötzlich auf Null. «Wir Künstler sind ja eigentlich Globetrotter, nun mussten wir wieder zu unseren Wurzeln zurück und uns neu besinnen … Ich habe zum Beispiel auf YouTube eine ganze Reihe kleiner Handy-Filmchen gemacht, in denen ich die Partitur der Verdi-Oper ‘Attila’ erkläre». Online sei so viel passiert in dieser Corona-Zeit, betont Mazzola. «All diese streamings aus Opernhäusern in aller Welt, und die vielen improvisierten Konzerte, die unter strengen Auflagen und genügend Distanz ebenfalls gestreamt wurden.» Für Künstler und Publikum ist es allerdings nur eine Notlösung. «Die einzige Oper, die ich in dieser Zeit tatsächlich live dirigiert habe, war hier in Zürich die Wiederaufnahme von ‘Maria Stuarda’», erzählt er lachend, «mit Chor und Orchester einen Kilometer vom Opernhaus entfernt am Kreuzplatz …!» Schwierig sei’s gewesen, aber ein tolles Experiment.
Musikchef in Chicago
Seit dieser Saison ist Enrique Mazzola Musik-Chef der Lyric Opera in Chicago, dem zweitgrössten Opernhaus der USA, nach der Met. Ein erschwerter Beginn unter Corona. «Aber ich bin so herzlich dort aufgenommen worden», sagt Mazzola. «Chicago ist Midwest, die Leute sind anders als in New York oder Los Angeles. Wir haben die Saison jetzt mit Verdis ‘Macbeth’ eröffnet und das Publikum war total begeistert.» Anfang nächsten Jahres wird er seinem Publikum in Chicago ein zeitgenössisches Werk präsentieren: «Proving up». Denn einmal pro Saison, das hat er sich vorgenommen, soll es auch neue Musik sein in Chicago.
«’Proving up’ ist eine Kammeroper, geschrieben von einer amerikanischen Komponistin, die fast so heisst wie ich: Missy Mazzoli!» Die Namensnähe gefällt Mazzola und er freut sich auf die Produktion. «Chicago ist eine grosse Metropole und die Lyric Opera spielt eine wichtige Rolle im Leben von Chicago und mir liegt viel daran, die Lyric Opera künstlerisch weiter voranzubringen.» Dass es neben ihm einen weiteren Italiener gibt, der im Musikleben der Stadt eine wesentliche Rolle spielt, gefällt Enrique Mazzola. «Riccardo Muti leitet das Chicago Symphony Orchestra!»
Aber jetzt steht erst einmal «Anna Bolena» in Zürich für Mazzola im Mittelpunkt. Mit PubIikum im Saal und Maske im Gesicht … «Da ist es oft ein Problem, dass die Sänger auf der Bühne die Mimik des Dirigenten hinter der Maske nicht sehen», sagt Mazzola. «Lächelt er? Korrigiert er? Oft sind Sänger auch froh, wenn der Dirigent den Text lautlos mitsingt und sie ihn von den Lippen ablesen können … das geht nun nicht.» Aber etwas anderes geht: «Ich muss nun super ausdrucksstark sein mit den Augen und mit den Augenbrauen kommunizieren …!»
Da ist die rote Brille sicher ein guter Fixpunkt, um Mazzolas Augen auch von der Bühne aus zu finden …
«Anna Bolena» von Gaetano Donizetti
Opernhaus Zürich
Premiere: 5. Dezember