Michael Haefliger, der Intendant von Lucerne Festival, steckt also bereits mitten drin im diesjährigen Festivalbetrieb und kümmert sich gleichzeitig um das nächste und übernächste Jahr. Termine im Klassikbereich werden lang vorausgebucht und man steht in diesem Geschäft immer gleichzeitig in zwei oder drei Spielzeiten, beziehungsweise Festivals.
80 Jahre alt wird das Luzerner Sommer-Festival nun. Arturo Toscanini führte damals, im Sommer 1938, im ehemaligen Wohnhaus Richard Wagners in Tribschen bei Luzern ein Konzert auf, das international grosse Beachtung fand. Angespornt von diesem Erfolg gründete man das Festspielorchester und die Musikfestwochen Luzern. Diese Zeit war gewissermassen die Kindheit des Lucerne Festival, das sich rasant zu einem der wichtigsten Klassik-Veranstalter entwickelte.
Kindheit
Kindheit. Dieses Wort steht nun als Motto über dem diesjährigen Sommer. Dabei wird weniger Bezug genommen auf die Gründerjahre, sondern der Blick ist eher in die Zukunft gerichtet. Kinder als Hoffnungsträger, Kinder als Thema in der Musik, wie beispielsweise im «Children’s Corner» von Claude Debussy, Kinder als Publikum, dem man die Klassik näherbringen möchte, und schliesslich Kinder als Musiker, «Wunderkinder», von denen es gerade im Musikbereich recht viele gibt.
«Viele der grossen Musiker, die wir heute haben, waren Wunderkinder», sagt Michael Haefliger. «Nehmen wir nur Anne Sophie Mutter, Daniel Barenboim oder jetzt auch Daniil Trifonov. Es ist ja nicht unproblematisch: Können diese Kinder ein normales Leben führen oder nicht? Das Leben von Evgeny Kissin zum Beispiel war nie normal und wird es nie sein. Oder Lang Lang … das sind aussergewöhnliche Persönlichkeiten, die nach ganz anderen Massstäben leben und funktionieren.»
Michael Haefliger weiss, von was er spricht. Er kommt – als Sohn des Tenors Ernst Haefliger – aus einer musikalischen Familie. Schon als Kind lernte er Geige spielen, sein Bruder Andreas studierte Klavier und ist heute ein erfolgreicher Pianist. Michael Haefligers Weg ging in eine andere Richtung. «Ich habe während der Ausbildung ganz klar gesehen, dass sich in mir etwas anderes entwickelte, das dann zum Durchbruch kam.» In seinem Fall waren es die organisatorischen Qualitäten, das Management. «Ich habe mit 25 Jahren angefangen und war damals der jüngste Intendant. Das war in Davos beim Young Artists Festival. Immer auf der Basis meiner eigenen Musikausbildung. Ich glaube, wenn ich vom Management in die Musik gekommen wäre, dann wäre meine Einstellung ganz anders, weniger idealistisch, weniger die Kunst in den Vordergrund stellend, also kommerzieller.»
Für dieses Jahr hat er also das Thema «Kindheit» festgelegt. Braucht es eigentlich immer ein Motto? «Mit dem Motto schaffen wir einen Roten Faden zwischen den Höhepunkten. Es ist aber nicht möglich, in allen Veranstaltungen einen Bezug zum Thema zu finden. Das würde das Programm zu stark eingrenzen. Das kann man bei einem Festival machen, das drei Tage dauert, aber nicht bei vier Wochen.»
Wunderkinder
Man spricht bei begabten jungen Musikern gern von einem «Wunderkind», aber oft bleibt beides auf der Strecke: das Kind und das Wunder. Ist es also gut, Kinder schon ganz früh ein Instrument lernen zu lassen? «In diesem Beruf ist es keine Frage, ob man zu früh beginnt», sagt Haefliger. «Die motorische Ausbildung gelingt nur in jungen Jahren, wenn man älter ist, klappt es nicht mehr auf Grund der Motorik, auch des Hirns. Das ist wie bei Spitzensportlern: man muss früh anfangen.
Und man muss darauf achten, dass man die edukative Breite der Ausbildung nicht aus den Augen verliert. Es gibt natürlich unterschiedliche Begabungen, aber manche Künstler sind schon mit einem Instrument auf die Welt gekommen …» Für die «Wunderkinder» gibt es dieses Jahr eine «Wunderkind-Debut»-Reihe, in der vielleicht auch der eine oder andere künftige Superstar auftritt.
«Kindheit» hat aber bei Lucerne Festival noch andere Aspekte. So wird Andris Nelsons Gustav Mahlers 3. Sinfonie aufführen, in der Kinder als Inbegriff der Unschuld eine wichtige Rolle spielen. Nelsons kommt mit dem Boston Symphony Orchestra und lässt dazu Damen und Kinder des Leipziger Gewandhaus-Chores singen. (Spannend dabei: Nelsons verbindet hier das Bostoner Orchester, das er seit vier Jahren leitet, mit dem Chor des Leipziger Gewandhausorchesters, als dessen Chefdirigent er soeben ernannt wurde.)
Musizierende Kinder
Ausserdem gibt es ein «Orchestercamp» in Kooperation mit Superar Suisse, zu dem Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft eingeladen werden, denen in ihren Ländern eine kostenlose Musikförderung ermöglicht wird. Eine Woche lang erarbeiten sie ein sinfonisches Programm, das sie am 18. August im grossen Konzertsaal des KKL dem Publikum präsentieren. Inspiriert wurde das Camp durch das venezolanische Projekt El Sistema.
Und es gibt eine Reihe «Luege/Lose/Erläbe». In drei ausgewählte Konzerte dürfen Erwachsene zwei Kinder gratis mitnehmen und in die grosse weite Welt der klassischen Musik einführen. Und Fritz Hauser, composer in residence, wird mit 200-300 Kindern und Erwachsenen ein Projekt am Erlebnistag realisieren.
Michael Haefliger will aber auch die Erwachsenen von Erfahrungen profitieren lassen, die man bei Konzerten für Jugendliche gemacht hat. «Das, was man früher bei Kinderkonzerten gemacht hat, gibt es jetzt immer mehr auch für Erwachsene: Man redet, man kommuniziert, man lernt etwas, man sitzt nicht nur steif im Sessel, sondern man bewegt sich … alles Erfahrungen, die in der Erziehung von Kindern schon früh Eingang gefunden haben.
<40min> ist ein Format für Erwachsene, das es früher schon für Kinder gegeben hat. Und sehr spannend finde ich auch immer wieder das Thema: das Kind in uns. Als Erwachsener hüllt man sich wie in einen Mantel, man lacht weniger, man springt nicht herum. Dabei wäre es doch interessant, im Alltag, im normalen Leben einen Zugang zu sich selbst als Kind zu finden, das Kindliche in sich selbst zu entdecken und dazu zu stehen. Das ist doch etwas, das einen befreit!»
KKL hat alles verändert
Michael Haefliger ist jetzt seit 1999 Intendant bei Lucerne Festival und sein Vertrag wurde bis 2025 verlängert. Ein Vierteljahrhundert wird er dann dieses Festival geprägt haben. Hätte er sich je vorstellen können, so lang in Luzern zu bleiben? «Nein, überhaupt nicht», sagt er. «Am Anfang lag mein Horizont bei zehn Jahren. Aber ich habe in dieser Zeit sehr viel aufbauen und gestalten können, das Teil meiner Philosophie ist. Und mit dem KKL hat sich alles verändert, es ist ein ganz anderer Job geworden, und ich habe diesen Job entwickelt. Wenn eines Tages ein anderer diesen Job übernimmt, wird es kaum möglich sein, noch einmal so einen Sprung zu machen. Ich hatte die Herausforderung, das neue Haus in eine neue Dimension zu bringen.»
Ein Tiefpunkt war allerdings der Knatsch um die «Salle Modulable», diesen anpassungsfähigen Konzertsaal, der auch für viele neue Konzertformen geeignet gewesen wäre. Er scheiterte letztlich an Erbstreitigkeiten des Geldgebers. Hätte Haefliger nach diesem Debakel nicht am liebsten alles hingeworfen …? «Die Substanz, die in Luzern vorhanden ist, ist ein weites Feld, das spannend ist und wo man tolle Sachen machen kann. Wir haben beim Festival-Orchester mit Riccardo Chailly eine neue Führung, ebenso in der Academy mit Wolfang Rihm und Matthias Pintscher, da lassen sich viele neue Ideen entwickeln. Wir haben Ausland-Projekte, die sehr vielversprechend sind und müssen immer bremsen, damit wir nicht zu viel anreissen …»
Michael Haefliger ist auch davon überzeugt, dass früher oder später ein neues Haus für das jetzige Luzerner Theater entstehen wird und dass sich damit auch konzertmässig neue Möglichkeiten bieten. Aber das ist vielleicht dann zu spät für ihn persönlich? «Ach, da kann ich ja als Besucher noch kommen», winkt er ab, «aber ich weiss dann, ich habe auch einen Beitrag daran geleistet.»
Festivals boomen
Sommerpause gibt es im Klassikbereich überhaupt nicht. Wenn Konzert- und Opernhäuser Sommerferien haben, boomen die Festivals reihum. Michael Haefliger sieht das positiv. «Es ist doch schön, dass Kultur so einen Stellenwert hat. Auch in der Alpenregion. Für jeden einzelnen gilt es natürlich, sich ein Profil zu erschaffen und eine Unverwechselbarkeit im Inhalt aufzubauen. Man muss aufpassen, dass man sich nicht gegenseitig konkurrenziert, aber ich bin sehr positiv überrascht, was alles möglich ist und wie gross das Angebot in einem Umkreis von etwa 150 km ist. Wo findet man das sonst!»
So ist es auch nicht schwierig, immer hochkaratige Künstler zu finden, die bei Lucerne Festival auftreten. Und dies sei keineswegs eine Preisfrage. «Wir haben einen guten Ruf und gehören zu den besten Festivals der Welt. Das ist schon mal eine wichtige Voraussetzung. Es geht nicht nur um das Honorar. Die Künstler wissen, dass sie in Luzern auf einem Top-Niveau auftreten, dass nur die Besten hierherkommen. Das ist wichtig für die Künstler. Es muss eine künstlerische Bedeutung haben, das Programm muss anspruchsvoll sein».
Sternstunden und «magic moments»
Nun gibt es ja diese «big shots», diese Superstars der Klassik, die einen Saal im Handumdrehen füllen. Und trotzdem heisst es immer wieder, klassische Musik ziehe nicht. «Es kommt natürlich auf die Interpreten an», sagt Haefliger. «Nehmen wir zum Beispiel einen Daniil Trifonov. Er ist eigentlich das alte Modell vom klassischen Musiker. Da ist es nicht einfach Kommunikation und Firlefanz. Er ist sehr seriös, fast etwas introvertiert, wie Kissin auch, und beide lösen beim Publikum grösste Begeisterung aus.»
Ja, diese Sternstunden gibt es immer wieder und sie sind nicht selten. Welche Zauberkräfte stecken aber dahinter? Was macht diese «magic moments» aus?
«Es liegt wohl daran, dass manche Künstler fähig sind, genau in einem bestimmten Moment eines Konzertes auf höchster Stufe Konzentration und die Bindung von Partitur und Interpretation mit ihrer unglaublichen Meisterschaft verschmelzen zu lassen. Sie schaffen es, die emotionale Tiefe der Musik zu erforschen und zu kommunizieren, sie werden also zum Vermittler. Das spürt das Publikum, das schafft den Zugang, das schafft die Begeisterung.»
Etwas Unerklärbares bleibt immer dabei, etwas Wundersames, etwas zutiefst Berührendes. «Man kann es nachvollziehen», sagt Michael Haefliger, «aber man kann es nicht wirklich erklären, warum einzelne Menschen so überdurchschnittlich charismatisch und gleichzeitig begabt sind. Das ist schon etwas Geniales … und das ist ja das Schöne, dass man es nicht erklären kann.»
Draussen ist es immer noch kalt, als wir uns verabschieden. Aber der Gedanke an solche «magic moments», an diese Unerklärbarkeit und den Zauber der Musik erwärmt zumindest die Seele.
Lucerne Festival Ostern, 17.- 25 März 2018
Lucerne Festival Sommer, 17. August - 16. September 2018