Computersysteme übernehmen immer stärker Aufgaben, die man früher als spezifisch menschliche Denkleistungen betrachtet hat. Läuft die ganze Entwicklung darauf hinaus, dass der Mensch eines Tages durch Computer vollständig ersetzt wird? Oder gibt es etwas am menschlichen Denken, das selbst durch die raffiniertesten technischen Systeme nicht ersetzbar ist?
Fragen stellen
Das neue Heft umkreist diese Fragen von mehreren Seiten. So macht der Chefredakteur Wolfram Eilenberger darauf aufmerksam, dass Computer hervorragend dazu geeignet sind, grosse Datenmengen zu analysieren. Was sie aber nicht können, ist, Fragen zu stellen. Man kann es vereinfacht so sagen: Computer verarbeiten die Inputs, die man ihnen gibt. Dabei können sie zu verblüffenden Ergebnissen kommen. Aber sie bewegen sich immer im Rahmen dessen, was vorgegeben ist.
Dieser Gedanke hat eine philosophische Pointe. Denn die Fähigkeit, fremde und eigene Überzeugungen infrage zu stellen, ist die Bedingung dafür, dass Menschen nicht blindlings Diktatoren folgen. Eilenberger verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Hannah Arendt, die im Mangel an dieser Fähigkeit die Hauptursache für die "Banalität des Bösen"sah.
Sublektiv und intuitiv
Yves Bosshart, Redakteur der Sendung "Sternstunde Philosophie" beim Schweizer Fernsehen, sieht den Unterschied zwischen dem menschlichen und dem maschinellen Denken in der Urteilskraft. Er bezieht sich dabei auf Immanuel Kant. Die Urteilskraft besteht darin, aus einer Fülle von einzelnen Erscheinungen übergeordnete Gesetzmässigkeiten abzuleiten. Das sind keine rein logischen Prozesse, sondern sie sind kreativ und zum Teil intuitiv. Man darf sich nicht täuschen lassen: Mit ihrer immensen Fähigkeit, grössere Datenmengen zu verarbeiten und auch dort nach statistischen Regelmässigkeiten zu suchen, liefern Computer verblüffende Ergebnisse, die denen des menschlichen Denkens durchaus ähneln. Aber gerade deshalb ist es so wichtig, den subjektiven und intuitiven Charakter menschlichen Denkens herauszustellen.
Auf einen anderen wesentlichen Punkt macht die stellvertretende Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler aufmerksam. Unser Denken hat sich nämlich durch den ständigen Zugriff auf das Wissen im Internet verändert. Wir verfügen quasi über einen unbegrenzten Datenspeicher, der sofort ins Spiel kommt, wenn wir in einem Gespräch nicht weiter wissen. Ganz anders aber war das, was Plato seinem Symposion beschrieben hat. Die ganze Atmosphäre war eben dadurch geprägt, dass die Teilnehmer vieles nicht wussten und sich in ihren intensiven Gesprächen an das Unbekannte herantasteten. Es gibt, so kann man Flaßpöhler verstehen, auch im Wissen eine Erotik des Geheimnisses.
Lust Am Bösen
Apropos Erotik und Geheimnis: Neben dem Denken enthält das Heft eine Fülle anderer Themen, zum Beispiel auch ein Gespräch zwischen der Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der HAW Hamburg, Mirjam Schaub, und dem Autor Sven Regener, der mit seinen Romanen "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd" Bestseller geschrieben hat. Die beiden unterhalten sich über die Frage, was uns am Exzess so reizt. Das Gespräch ist zwar recht interessant, aber irgendwie hat man das Gefühl, dass die beiden sich auch ziemlich bedeckt halten.
Interessanter ist da ein Gedankensplitter von Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena. Er fragt nach der verdrängten "Lust am Bösen". Woran liegt es, dass uns Nachrichten von Katastrophen stärker anziehen, als Berichte vom normalen Gang der Welt? Zwar untergraben die Nachrichten vom täglich praktizierten Bösen unserer Weltvertrauen, aber sie haben auch eine gegenteilige Wirkung. Indem sie die diffuse Angst auf konkrete Fakten richten, zäunen sie diese auch ein. Das hat eine entlastende Funktion.
Wie lässt es sich überhaupt in einer Welt aushalten, die man in ihrer Art und Anlage für ziemlich schlecht konstruiert hält? Der Frankfurter Philosoph Martin Seel erinnert in einem kurzen, sehr lesenswerten Essay an Theodor W. Adorno. Er macht ganz klar, dass Adornos Methode, seine Sicht der Welt verklausuliert darzulegen, überhaupt nicht verstaubt ist. Da bekommt man Lust, noch einmal zu den "Minima Moralia" zu greifen. Und wer längere Ferien vor sich hat oder sowieso ein ausdauernder Leser ist, wird der Empfehlung von Gert Scobel folgen: die zweibändige kommentierte Ausgabe von Hegels "Phänomenologie des Geistes" von Pirmin Stekeler.
Der Schardsinn der Gänse
Hervorzuheben ist auch ein Gespräch mit dem Philosophen Charles Taylor. Man glaubt kaum, dass dieser energiegeladene Mann schon 82 Jahre alt ist. Er reist immer noch durch die Welt, hält Vorlesungen und nimmt Doktorprüfungen ab. Sein Buch," Quellen des Selbst", 1996, ist inzwischen ein philosophischer Klassiker. Nicht zu vergessen sind aber auch "Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung" und "Ein säkulares Zeitalter", beide 2009. In dem Gespräch, das Wolfram Eilenberger geführt hat, kommen so schöne Sätze vor wie: "Das Selbst ist kein Objekt, das schon da ist, um gefunden zu werden."
Um noch einmal auf das Denken zurückzukommen: Berührend ist die Art, wie Tomi Ungerer Kinderfragen beantwortet. Diesmal beschäftigt er sich mit der Frage: "Haben Tiere Gefühle?" Dabei stellt er fest, dass Hunde nicht nur Gefühle, sondern auch Vorahnungen haben, und er bewundert den "Scharfsinn der Gänse", den "Mannschaftsgeist der Schafe" und die "Gutmütigkeit der Kühe". Dann stellt er fest: "Katzen und ihre Verwandten neigen allerdings weniger zu Gefühlsausbrüchen." - Zu einer guten Philosophie gehört eben auch eine Prise Humor.
Philosophie Magazin, Nr. 06/2014, Oktober/November 2014