Wartesäle waren früher oft mit Wandgemälden ausstaffiert. Erhalten geblieben ist ein solches Ensemble im Bahnhof Biel. Es zeigt einen Zyklus von Philippe Robert. Die Verlegerin und Schriftstellerin Bernadette Fülscher widmet dem Ort ein literarisches Experiment.
Wartesäle sind Orte des befristeten Aufenthalts. Man wartet hier auf den nächsten Zug. – Tut man das? Müsste nicht eher in der Vergangenheitsform gesprochen werden? Seitdem das Unterwegssein mit dichten Fahrplänen und durch das Handy minutengenau getaktet ist, gehört das Aufsuchen von Wartesälen kaum mehr zum Reisen. Der Begriff der Mobilität ist zum Attribut des aktiven Menschen geworden.
Es ist denn auch hundert Jahre her, seit der Bieler Maler Philippe Robert (1881–1930) den Bieler Wartesaal ausgemalt hat. Zuerst entstand das Wandbild «Der Stundentanz»; danach gestaltete Robert auch die drei weiteren Wände des Raums mit den Sujets «Die Lebensstufen», «Die Jahreszeiten» und «Zeit und Ewigkeit» – typische Themen seiner symbolistischen, dem Jugendstil des Fin de Siècle nahen Malerei.
Der künstlerische Schmuck in Wartesälen zielte auf Reisende ab, die Zeit haben, um sich der Betrachtung der Bilder zu widmen. An dieser Nahtstelle klinkt sich das Büchlein der Bielerin Bernadette Fülscher ein mit der Frage, wie heutige Besucherinnen und Besucher auf die sie umgebenden Bilder reagieren. Einen ganzen Tag hat sie im Bieler Wartesaal verbracht und ihre Beobachtungen protokolliert.
Daraus ist ein schmales Büchlein entstanden. In unprätentiöser Sprache schildert Bernadette Fülscher das Kommen, Bleiben und Gehen, das Verhalten und Interagieren, die Einzelnen, Paare und Peers, die Abgeschotteten und die Kommunikativen. Bezüge des Publikums zu den Malereien bleiben die Ausnahme und sind flüchtig. Die Aufmerksamkeit gilt dem Handy, der Verpflegung oder allenfalls anderen Personen.
Die Expedition in den Wartesaal ist ebenso ein soziales wie ein literarisches Experiment. Es bleibt nicht aus, dass die Beobachterin ihrerseits in ihrem Tun beobachtet wird. Die fundamentale Bedingung des Beobachtens zeigt sich hier ganz direkt: Die zu erforschende Situation wird durch das Forschen beeinflusst. Es gibt keinen neutralen Standpunkt.
Im Epilog vermerkt die Autorin, einige Monate nach ihrer Beobachtung seien neue Vorschriften erlassen worden: Nutzung des Wartesaals nur mit gültigem Fahrausweis und nicht länger als bis zur Abfahrt des nächsten Anschlusszuges, Essen und Schlafen verboten. – Das meiste von dem, was Bernadette Fülscher im Bieler Wartesaal beobachtet hat, darf dort nicht mehr stattfinden.
Bernadette Fülscher: Der Wartesaal. Literarisches Porträt. Biel: Editions Paralleles, 2023, 127 S.
Lesung mit der Autorin Bernadette Fülscher und Bernadette Walter, Direktorin Neues Museum Biel, über das Buch und die Bilder
Donnerstag, 11. Januar 2024, 20:00 Uhr im Wartesaal des Bahnhofs Biel
Platzzahl beschränkt, Anmeldung empfohlen bei
[email protected] / 032 328 70 33