Gershom Scholem, berühmter Erforscher der jüdischen Mystik und Freund Walter Benjamins, geboren 1897 als deutscher Jude in Berlin und 1923 nach Palästina ausgewandert, wurde im Jahr 1946 von der Jerusalemer Hebräischen Universität nach Deutschland entsandt, um nach den von den Nazis geraubten jüdischen Privatbibliotheken zu suchen. Die Erkundungsreise war ein Fehlschlag. Scholems Reise kommt in «Morgenland» zwar nicht ausdrücklich vor, aber sie ist einer der Kerne, um die sich in Stephan Abarbanells Romanerstling eine entlang den historischen Tatsachen verlaufende Erzählung kristallisiert.
Der Autor ist durch die eigene Familiengeschichte in sein fiktionales Konstrukt verwickelt. Die Abarbanells waren einst sephardische Juden und wurden vor drei Generationen im deutschen Kaiserreich christianisiert. Stephan Abarbanell spricht von einem nie erloschenen familiären Wissen um das eigene Anderssein. Es trieb schon seinen Vater und dann ihn selbst dazu, die Annalen der Familie zu erforschen. Diese Recherchen und eine einst begeisterte, dann kritische Neigung zu Palästina und Israel, diesem «Morgenland», führten ihn immer wieder dort hin und zeigten ihm eine fremde Sicht auf Europa und Deutschland. Es ist auch der Blick seines Romans, der im Jahr 1946 spielt.
Stunde Null
In mehrjährigen Nachforschungen erlas und erreiste Stephan Abarbanell sich das Wissen und die Vorstellung vom Leben in Palästina und in Deutschland zu jener Zeit. Beide Länder standen vor einem Anfang: vor der gegen Widerstände durchgesetzten Wiederherstellung eines Staates nach fast zweitausend Jahren hier und vor dem Neuaufbau einer durch tausendjährige Barbarei zerstörten Zivilisation dort. In diese völlig verschiedenen, aber miteinander schicksalhaft gekoppelten Nullstunden schreibt der Autor seine Geschichte von da nach dort und zurück.
Die Hauptfigur Lilya Wasserfall, Tochter deutsch-jüdischer, früh nach Jerusalem ausgewanderter Eltern, ist in Palästina am bewaffneten Widerstand gegen die englische Mandatsmacht beteiligt. Sie bekommt dann aber den Auftrag, die von den Alliierten in Deutschland eingerichteten Camps für Displaced Persons zu besuchen und einen Bericht über Möglichkeiten zu deren Auswanderung nach Palästina zu verfassen. Zusätzlich nimmt sie den geheimen Auftrag mit, nach einem verschollenen, von den Nazis als kriegswichtig eingestuften jüdischen Wissenschafter zu suchen, von dem nicht bekannt ist, ob er noch lebt.
Spannung und Faktentreue
Lilya macht sich widerwillig auf die Reise. Lieber hätte sie an Aktionen des Widerstands in Palästina teilgenommen. Sie fühlt sich kaltgestellt. Doch als sie später in Deutschland immer neue Puzzleteilchen der verworrenen Geschichte zusammenbekommt, wächst ihr Engagement dann doch. Es wird gar zur verbissenen Entschlossenheit, die sich trotz einer schattenhaften und in Berlin einmal sehr handfest in Erscheinung tretenden Bedrohung nicht einschüchtern lässt. Spannung und Tempo des Romans ziehen stetig an, sodass es einem, je länger man liest, immer mehr geht wie der Heldin: Man will es wissen.
Auf dem Weg zur Lösung – die hier nicht verraten wird – erfährt man vieles über die Situation in Deutschland unmittelbar nach dem Krieg. Lebensbedingungen, Städte, Wohnsituationen, Verkehrsverhältnisse scheinen in knapper Zeichnung auf. Die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) lernen wir bei ihrem Einsatz für Displaced Persons (DP) und KZ-Opfer kennen. Eines der grössten DP-Camps im südlichen Deutschland war Föhrenwald bei München. Es wird zum historisch exakt geschilderten Schauplatz des Romans. Ebenso packend gestaltet sich die bis in Details faktentreue Beschreibung des Offenbach Archival Depot (OAD), einer weiteren Station auf Lilyas Erkundungsreise. Im OAD sammelte die US-Army Millionen von aus jüdischem Besitz geraubten Büchern, stellte sie zum Teil instand und versuchte deren rechtmässige Besitzer oder Erben zu eruieren.
In Cinemascope gedacht
Auch das von den Briten befreite KZ Bergen-Belsen ist eine Etappe auf Lilyas Weg. Zwar war es 1946 zum Camp der Überlebenden geworden, doch das Grauen war noch in der Luft und in den Seelen der Menschen, die es gesehen hatten. In «Morgenland» hallen auf Schritt und Tritt die Schrecken der NS-Zeit nach. Deutschland ist besetzt, die Bewohner sind misstrauisch oder verängstigt oder verstellen sich. Unsicherheit, mehr noch als Mangel, ist das beherrschende Lebensgefühl. Stephan Abarbanell erklärt auf der Website seines Buches: «Fast alle meine Helden erleben die Welt wie unter Schock, aus dem sie langsam erwachen, sich umblicken, neue Orientierung suchen.»
Der Autor ist Kulturchef des RBB (Rundfunk Berlin Brandenburg), er schreibt flüssig und versteht es, seine bildstarke Handlung wie ein Road Movie durch die Erzählzeit rollen zu lassen. Die Geschichte verliert nie den Drive. So ist denn «Morgenland» ein unterhaltendes Buch, formal konventionell und solide gearbeitet. Seine Figuren sind gewissermassen in Cinemascope gedacht: Akteure, denen man zuschaut, in die man aber nur spärlich hineinsieht. Mehr möchte man auch gar nicht vorgesetzt bekommen in diesem Plot. Die Story funktioniert und transportiert Realitäten, denen man hinterher nachgeht. Der Anhang mit knappen geschichtlichen Fakten zum Roman ist dabei von Nutzen.
«Morgenland» als Film? – Klar, warum denn nicht!
Stephan Abarbanell: Morgenland. Roman, Karl Blessing Verlag, München 2015, 459 S. www.morgenland-roman.de